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Entscheidungen

OWi

Geschwindigkeitsüberschreitung, Absehen vom Fahrverbot, Anforderungen

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Bamberg, Beschl. v. 12.02.2018 - 2 Ss OWi 63/18

Leitsatz: Von einem wegen eines groben Pflichtenverstoßes (hier: Geschwindigkeitsüberschreitung um 32 km/h)verwirkten Regelfahrverbot kann bei einem innerorts bei freier Gegenfahrbahn durchgeführten Überholvorgang grundsätzlich nicht abgesehen werden; das Überholen begründet in einem solchen Fall keinen Ausnahmeumstand im Sinne geringen Verschuldens. Dies gilt regelmäßig auch dann, wenn es sich bei dem Tatort um eine übersichtliche, breit ausgebaute und schnurgerade verlaufende Fahrbahn ohne Wohnbebauung oder Fußgängerverkehr handelt.


In pp.
Mit Bußgeldbescheid vom 05.07.2017 ordnete die Verwaltungsbehörde gegen den Betr. wegen einer innörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 32 km/h neben einer Geldbuße von 240 EUR ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 IIa StVG an. Auf seinen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Einspruch verurteilte das AG den Betr. am 03.11.2017 „aufgrund des im Tatbestand rechtskräftigen Bußgeldbe-scheides“ zu einer Geldbuße in gleicher Höhe, sah jedoch von einem Fahrverbot im Wesentlichen mit der Begründung ab, einer grober Pflichtenverstoß iSd § 25 I 1 StVG erfordere kumulativ das Vorliegen von zwei Elementen, nämlich objektiv eine besondere Gefährlichkeit des Verstoßes (Erfolgsunwert) und subjektiv eine gesteigert nachlässi-ges, leichtsinniges oder gleichgültiges Verhalten (Handlungsunwert). Vorliegend könne aus dem nur kurzfristigen Beschleunigen beim Überholen eines Busses bei vollkommen freier Fahrbahn weder auf eine gesteigerte Fahrlässigkeit noch auf eine nicht rechts-treue Gesinnung geschlossen werden kann; vielmehr habe sich der Betr. in dem Wis-sen, dass sich im weiteren Streckenverlauf eine kilometerlange Passstraße mit durch-gehendem Überholverbot befinde, fahrlässig zum Überholen entschlossen, wobei zu seinen Gunsten ferner zu werten sei, dass die Straße am Tatort äußerst übersichtlich und besonders breit ausgebaut und zudem schnurgerade verlaufe und sehr gut einseh-bar sei. Im Übrigen weise der Tatort weder Wohnbebauung noch Fußgängerverkehr auf, weshalb nicht von einem Regelfall für ein Fahrverbot auszugehen sei. Mit ihrer hiergegen gerichteten, mit der Sachbeschwerde begründeten Rechtsbeschwerde bean-standet die StA, dass das AG von einem Fahrverbot abgesehen hat. Ihr erfolgreiches Rechtsmittel führte zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache an das AG.
Aus den Gründen:
I. Die gem. § 79 I Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbe-schwerde der StA hat in der Sache Erfolg.
1. Aufgrund der vom Tatrichter zu Recht als wirksam gewerteten Beschränkung des Einspruchs auf den Rechtsfolgenausspruch (§ 67 II OWiG) ist nicht nur der Schuld-spruch des Bußgeldbescheids vom 05.07.2017 in Rechtskraft erwachsen, sondern auch die von der Verwaltungsbehörde getroffenen Feststellungen haben Bindungswirkung entfaltet (KK/Ellbogen OWiG 5. Aufl. § 67 Rn. 58 m.w.N.). Das AG war bei seiner Ent-scheidung deshalb daran gebunden.
2. Aufgrund des somit feststehenden Sachverhalts […] kam gegen den Betr. wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gemäß §§ 24, 25 I 1 StVG, § 4 I 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. Nr. 11.3.6 Tab. BKat neben einer Geldbuße von 160 EUR die Anordnung eines Fahrverbots für die Dauer eines Monats als Regelfall in Betracht. Dies hat, worauf die Ausführungen im Urteil schließen lassen, das AG offenbar erkannt. Dennoch hat das AG, das die vorgesehene Regelgeldbuße von 160 EUR wegen „Vor-eintragungen im Fahreignungsregister“, die allerdings nicht näher mitgeteilt werden (weshalb sich das Urteil insofern als lückenhaft erweist), auf 240 EUR erhöht hat, von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen. Soweit das AG sich auch mit einer beharrlichen Pflichtverletzung befasst und insoweit - ohne einen konkreten Bezug zum vorliegenden Fall herzustellen - § 4 II BKatV heranzieht, lässt sich dem Urteil mangels jeglicher Darstellung der Vorahndungen schon nicht entnehmen, ob die Voraussetzun-gen einer solchen beharrlichen Pflichtverletzung gegeben waren bzw. vom AG bejaht wurden. […].
3. Die Erwägungen des AG zum Absehen vom Regelfahrverbot halten einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Zwar geht der Tatrichter zutreffend davon aus, dass auch bei Vorliegen der Voraus-setzungen des Regelfalles einer groben Pflichtverletzung nicht ausnahmslos ein Fahr-verbot zu verhängen ist. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begeg-nen. Denn die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters be-sondere Umstände ergibt, nach denen es ausnahmsweise der Warn- und Denkzettel-funktion eines Fahrverbotes im Einzelfall nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Seine Entscheidung kann vom Rechtsbeschwerdegericht des-halb nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt, die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat.
b) Andererseits ist die Vorbewertung des Verordnungsgebers, der in § 4 I 1 BKatV bestimmte Verhaltensweisen als grobe Pflichtverletzungen ansieht, bei denen regelmä-ßig die Anordnung eines Fahrverbots in Betracht kommt, von den Gerichten zu beach-ten (BGHSt 38, 125, 132; BayObLG VRS 104, 437 f.). Bei Verwirklichung eines der Regelbeispiele in § 4 I BKatV wird zum einen auf der tatbestandlichen Ebene die Ver-mutung einer groben Pflichtverletzung begründet, zum anderen auf der Rechtsfolgen-seite die Vermutung ausgelöst, dass die Anordnung des Fahrverbots zur erzieherischen Einwirkungen auf den Betr. erforderlich ist. Vom Regelfahrverbot kann daher nur in Einzelfällen abgesehen werden; so in Fällen, in denen der Sachverhalt zugunsten des Betr. solch erhebliche Abweichungen vom Normalfall aufweist, dass die Annahme eines Ausnahmefalles gerechtfertigt ist (BayObLGSt 1994, 56), oder in Fällen, in denen eine besondere Härte vorliegt, wie insbesondere bei drohender Existenzgefährdung. Nur dann, wenn ein Ausnahmefall vorliegt, dessen Umstände die tatbestandsbezogene oder die rechtsfolgenbezogene Vermutung entkräften, darf von der Anordnung eines an sich verwirkten Regelfahrverbots abgesehen werden. Die Ausnahme bedarf einer eingehen-den, auf festgestellte Tatsachen gestützten Begründung (Burhoff/Deutscher, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. [2018], Rn. 1435 m.w.N.).
4. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben vermögen die bisherigen Feststellungen des AG eine Ausnahme von der gebotenen Verhängung des Regelfahrverbotes auf der tatbestandlichen Ebene nicht zu rechtfertigen.
a) In objektiver Hinsicht beschreiben die Tatbestände, für die § 4 I BKatV […] das Fahrverbot als Regelsanktion vorsieht, Verhaltensweisen, die besonders gravierend und gefahrenträchtig sind. Beim ihrem Vorliegen kommt es auf die weiteren Einzelheiten der Verkehrssituation regelmäßig nicht an (BGHSt 43, 241, 248). Insbesondere kann die Beschaffenheit des Tatortes den Betr. grundsätzlich nicht entlasten. Die vom AG her-angezogenen örtlichen Verhältnisse, nämlich dass „die Straße am gerichtsbekannten Tatort äußerst übersichtlich und besonders breit ausgebaut und zudem schnurgerade und sehr gut einsehbar ist“, sowie das Nichtvorliegen von „Wohnbebauung oder Fuß-gängerverkehr“ am Tatort vermögen den Erfolgsunwert des Regelfalls nicht zu beseiti-gen (Burhoff/Deutscher a.a.O. Rn. 1581; vgl. OLG Düsseldorf DAR 1997, 409; BayObLGSt 1994, 56). Diese Umstände belegen nicht, dass die von der erheblichen Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausgehende abstrakte Gefahr am Tatort ausgeschlossen war, dies insbesondere bei einem Überholvorgang, bei dem der überholte Bus, je nach Blickwinkel, den überholenden Pkw zeitweise ver-deckte.
b) Hinsichtlich des subjektiven Elements (Handlungsunwert) lässt nicht das schlichte Fehlen einer „gesteigerten Fahrlässigkeit“ beim Betr. die Vermutungswirkung des Re-gelfalles einer groben Pflichtwidrigkeit entfallen, sondern erst das Vorliegen von Aus-nahmeumständen, die den objektiv groben Verstoß (hier Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 32 km/h) in subjektiver Hinsicht nicht besonders verantwortungslos erscheinen lassen. Nur wer aufgrund gerin-gen Verschuldens (etwa weil er infolge einfacher Fahrlässigkeit ein die Geschwindigkeit begrenzendes Verkehrszeichen übersehen hat, und keine weiteren Anhaltspunkte vor-liegen, aufgrund derer sich die Geschwindigkeitsbeschränkung aufdrängen musste) einen - wie hier - objektiv schwerwiegenden Verkehrsverstoß begeht, bedarf nicht der Einwirkung des Fahrverbots neben einer Geldbuße, um ihn dazu anzuhalten, die Ver-kehrsvorschriften zu beachten (Hentschel NZV 1997, 527, 528).
aa) Das kurzfristige Beschleunigen beim innerörtlichen Überholvorgang auf immerhin 82 km/h bei vollkommen freier Fahrbahn vermag die gewichtige Indizwirkung des hier gegebenen Regelfalles nicht auszuräumen. Ein Überholvorgang, bei dem die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nicht überschritten werden darf (Hent-schel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 44. Aufl., § 5 StVO Rn. 32, § 3 StVO Rn. 45a), wird wissentlich und willentlich durchgeführt. Beim Überholen ist der überho-lende Kraftfahrer allgemein zu erhöhter Sorgfalt verpflichtet (vgl. OLG Köln DAR 1967, 17). Das verfahrensgegenständliche Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindig-keit anlässlich eines innerörtlichen Überholvorgangs bei „vollkommen freier Fahrbahn“ führt daher nahezu zwingend zur Annahme einer auch subjektiv groben Pflichtverlet-zung. Ein Fehler, wie er auch dem sorgfältigen und pflichtbewussten Kraftfahrer unter-läuft (etwa in Form eines sog. Augenblickversagens), ist ausgeschlossen.
bb) Schließlich ist es auch verfehlt, eine gleichsam notstandsähnliche Situation deshalb anzunehmen, wie es das AG scheinbar getan hat, weil sich der Betr. zum Überholen „in dem Wissen“ entschloss, dass vor ihm eine kilometerlange Passstraße mit durchge-hendem […] Überholverbot […] lag,
c) Sämtliche vorstehenden Umstände, mit denen das AG das Absehen von der Ver-hängung des Fahrverbots trotz Vorliegens eines Regelfalles begründet hat, stellen weder alleine noch zusammen genommen besondere Umstände dar, die die Nichtver-hängung eines Fahrverbotes begründen könnten. Der festgestellte Sachverhalt weist keine so erheblichen Abweichungen vom Normalfall auf, dass - was die Tatbestands-ebene betrifft - das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes auch nur vertret-bar erscheint.
II. Auf die Rechtsbeschwerde der StA ist das Urteil des AG mit den nach Einspruchsbe-schränkung nur noch den Rechtsfolgenausspruch betreffenden Feststellungen aufzu-heben. Da zwischen Fahrverbot und Geldbuße eine Wechselwirkung besteht, hat die Aufhebung den gesamten Rechtsfolgenausspruch zu erfassen. Mit aufgehoben wird der Kostenausspruch.
III. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das AG zurückverwiesen (§ 79 VI OWiG). Eine eige-ne Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt, da in der neuen Verhandlung gegebe-nenfalls Feststellungen zu der Frage getroffen werden können, ob die Verhängung eines Fahrverbotes für den Betr. eine unverhältnismäßige Härte darstellt.
IV. Für die neue Entscheidung des AG weist der Senat außerhalb der Rechtsbeschwer-de noch auf Folgendes hin:
a) Im vorliegenden Fall dürfte nicht nur ein Regelfall des § 4 I 1 Nr. 1 BKatV verwirklicht worden sein, sondern auch der Regelfall des § 4 II 2 BKatV. Nach der aus dem bei der Akte befindlichen Auszug aus dem FAER ersichtlichen Vorahndungslage - zu der das AG allerdings bisher im Urteil keine konkreten Feststellungen getroffen hat, obgleich Anlass hierfür bestanden hätte - ist gegen den Betr. als Führer eines Kraftfahrzeugs nämlich wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 27 km/h bereits eine Geld-buße rechtskräftig festgesetzt worden; Rechtskraft der Ahndung der Vortat trat am 03.03.2017 ein; der verfahrensgegenständliche Verkehrsverstoß wurde am 18.06.2017, also nicht einmal vier Monate nach Rechtskraft der einschlägigen Vortat, begangen.
b) Im hier vorliegenden Fall einer wirksamen Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid auf die Rechtsfolgen ist die Urteilsformel anders zu fassen, als im Urteil des AG geschehen (vgl. BayObLG, Beschl. v. 12.02.1999 - 1 ObOWi 3/99 [bei juris]). […]


Einsender: RiOLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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