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Entscheidungen

Haftfragen

Untersuchungshaft, Nettostraferwartung, hohe Freiheitsstrafe, Reststrafenaussetzung

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16

Leitsatz: 1. Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr scheidet jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe aus, insbesondere ist die Annahme unzulässig, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz bestehe.
2. Zur Berücksichtigung einer möglichen Strafrestaussetzung bei der Bestimmung der Straferwartung.


KAMMERGERICHT
Beschluss
Geschäftsnummer:
4 Ws 130/16
In der Strafsache
gegen pp.
zurzeit in dieser Sache in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt xx,
wegen Steuerhinterziehung u.a.
hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts am 13. September 2016 beschlossen:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Berlin vom 1. August 2016 und der Haftbefehl des Amts-gerichts Tiergarten vom 13. Oktober 2014 – 351 Gs 3364/14 – aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
Gründe:
Mit ihrer am 24. März 2015 vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Berlin erhobenen Anklage hat die Staatsanwaltschaft Berlin dem Angeklagten 35 banden-mäßig begangene Fälle der Steuerhinterziehung sowie zwei Fälle der Anstiftung zu einer falschen Versicherung an Eides statt zur Last gelegt. Der Anklage liegt zugrun-de, dass der Angeklagte ab Ende 2008 oder Anfang 2009 unter anderem den ge-sondert Verfolgten S, Y und D von ihm verwaltete Gesellschaftsmäntel zur Verfü-gung gestellt und Scheinrechnungen ausgestellt habe, um den von den gesondert Verfolgten kontrollierten Firmen Pa. GmbH und Po. GmbH die Anmeldung eines ihre Umsatzsteuerzahllast mindernden Vorsteuerabzuges zu ermöglichen. Daraufhin sol-len in den Monaten Januar 2009 bis November 2011 insgesamt 26 auf diesem Tat-plan basierende Umsatzsteuervoranmeldungen der Pa. GmbH und neun Umsatz-steuervoranmeldungen der Po. GmbH bei den zuständigen Finanzämtern für Kör-perschaften eingegangen sein, wodurch Hinterziehungsschäden in Höhe von rund 12,3 Mio. Euro (Pa. GmbH) und rund 4,8 Mio. Euro (Po. GmbH) entstanden sein sollen (Fälle 1 bis 35 der Anklage). Außerdem habe der Angeklagte im Juni 2010 so-wie vor dem 27. Februar 2012 zwei gesondert Verfolgte aus dem Umfeld der ver-meintlichen Geschäftspartnerfirmen der Pa. GmbH aufgefordert, falsche eidesstattli-che Versicherungen in zwei Steuerverfahren vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg abzugeben (Fälle 36 und 37). Wegen der weiteren Einzelheiten ver-weist der Senat auf die Anklageschrift vom 23. März 2015.

Der Angeklagte ist in dieser Sache am 13. Oktober 2014 in seiner Wohnung in Ha. vorläufig festgenommen worden und befindet sich seitdem aufgrund des die Vorwür-fe der Steuerhinterziehung und einen der zwei angeklagten Fälle der Anstiftung zur falschen Versicherung an Eides statt (Fall 37 der Anklage) umfassenden Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom selben Tage – 351 Gs 3364/14 – in Untersu-chungshaft. Wegen des weiteren Verfahrensgangs zur Haftfrage nimmt der Senat Bezug auf seine Beschlüsse vom 24. Februar 2015 – 4 Ws 9/15 – und 15. April 2015 – [4] 161 HEs 8/15 [16/15] – sowie auf den Beschluss des 1. Strafsenats des Kam-mergerichts vom 3. Dezember 2015 – 1 Ws 82/15 –.

Die Hauptverhandlung findet seit dem 21. Mai 2015 statt. Den Gang und die Inhalte der Verhandlung kann der Senat nicht näher betrachten, da ihm die Protokollbände nicht vorliegen. Ausweislich einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Berlin vom 24. August 2016 hat die Hauptverhandlung bis zu diesem Zeitpunkt an 65 Tagen stattgefunden. Nach der Terminsverfügung des Vorsitzenden der Wirtschaftskammer vom 14. Juni 2016 sind in der Zeit vom 29. August 2016 bis einschließlich zum 9. Januar 2017 weitere 13 Termine vorgesehen.

Die Wirtschaftskammer hat am 15. März 2016 das Verfahren hinsichtlich der Fälle 27 bis 37 der Anklageschrift gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Im Übrigen hat sie mit rechtlichen und tatsächlichen Hinweisen vom 4. September 2015 und 1. März 2016 ihre Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass die Anklagevorwürfe zu 1. bis 26. jeweils als Fälle der Beihilfe bewertet werden könnten, und dass anstatt derer 26 lediglich fünf tatmehrheitliche Fälle der Beihilfe zur (Umsatz-)Steuerhinterziehung mit einem Gesamtschaden von ca. 12,3 Mio. Euro in Betracht kämen.

Mit Hinweis vom 18. März 2016 hat das Landgericht nach einer Zwischenberatung ferner seine Ansicht dargelegt, dass es weiterhin den dringenden Tatverdacht hin-sichtlich der nach der Teileinstellung noch verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe bejahe und deren rechtliche Bewertung eher als Beihilfe in Betracht komme; hinsicht-lich der Rechtsfolgenentscheidung gehe es davon aus, dass eine Gesamtfreiheits-strafe von über vier Jahren nicht wahrscheinlich sei.

Der Angeklagte hat am 25. Juli 2016 erneut die Aufhebung des Haftbefehls bean-tragt. Durch ihren angefochtenen Beschluss vom 1. August 2016 hat die Wirt-schaftskammer diesen Antrag abgelehnt und Haftfortdauer beschlossen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten vom 17. August 2016, der das Landge-richt mit Beschluss vom 22. August 2016 nicht abgeholfen hat. Die Staatsanwalt-schaft hat unter dem 24. August 2016 zu der Beschwerde ausführlich Stellung ge-nommen; die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat mit ihrer am 5. September 2016 beim Senat eingegangenen Zuschrift die Verwerfung des Rechtsmittels beantragt.

1. Der Senat lässt offen, ob der Angeklagte der ihm noch zur Last gelegten Taten dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) ist. Denn es fehlt jedenfalls an ei-nem Haftgrund, weil unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsgrundsätze (vgl. Senat StV 2012, 350 mwN) nicht mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit festzustellen ist, dass bei dem Beschwerdeführer noch immer der – hier allein infrage kommende – Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gegeben ist.

a) Die Fluchtgefahr ist im Haftbefehl neben der Erwartung einer langjährigen Ge-samtfreiheitsstrafe damit begründet worden, dass der Beschwerdeführer einen er-wachsenen Sohn habe, geschieden sei und sich in den letzten Jahren beruflich mit dem Verkauf von Firmenmänteln beschäftigt habe. Ferner sei er in einem Verfahren vor dem Landgericht Hi. u.a. wegen Betruges zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden; allerdings hätten sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Hannover gegen das Urteil – das im Haftbefehl fälschlich als ein solches vom 4. April 2013 bezeichnet ist – erfolgreich Revision eingelegt.

Die Kammer hat in der angefochtenen Entscheidung – unter Zugrundelegung einer auszusprechenden vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe – den Haftgrund im Wesentli-chen damit begründet, der nach Anrechnung der Untersuchungshaft noch verblei-bende Strafrest überschreite „immer noch deutlich die bei etwa zwei Jahren anzu-setzende Grenze, bei der (…) es weiterer die Fluchtgefahr begründender Tatsachen nicht mehr bedarf und nur noch zu prüfen ist, ob Tatsachen gegeben sind, welche die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr zu mindern geeignet sind“. Sie hat weiterhin ausgeführt, dass „derzeit ungewiss“ sei, „ob und wie sich (…) später eine in der Strafvollstreckung zu treffende Entscheidung nach § 57 StGB auf die Verbüßungs-dauer einer Freiheitsstrafe auswirken würde“, da diese „vor allem vom Verhalten des Angeklagten im Strafvollzug abhängen würde“. Dieser Aspekt könne daher die nach Auffassung der Kammer bestehende Fluchtgefahr nicht merklich reduzieren. Hinzu komme, dass gegen den Angeklagten gegenwärtig noch ein weiteres Strafverfahren vor dem Landgericht Gö. offen sei. Soweit die Verteidigung auf feste soziale Bindun-gen hingewiesen, insbesondere vorgetragen habe, der Angeklagte könne bei seiner geschiedenen Ehefrau wohnen, sei „dies auch weiterhin nicht belegt“. Daher ver-weise die Kammer bei der Bewertung der Fluchtgefahr „ergänzend auf die weiterhin gültigen umfangreichen Ausführungen“ in ihrem Beschluss vom 15. April 2016. In diesem hatte das Landgericht – über die im angefochtenen Beschluss enthaltenen Ausführungen hinausgehend – noch darauf verwiesen, dass der Angeklagte vor sei-ner Festnahme allein lebend und in einem örtlich ungebundenen Onlinehandel tätig gewesen sei; auch sehe er sich erheblichen Rückforderungen der Steuerbehörden und einer Entscheidung über den Verfall seiner gesicherten Vermögenswerte ausge-setzt.

b) Diese zur Begründung der Fluchtgefahr herangezogenen Erwägungen tragen den Haftgrund nicht, jedenfalls im derzeitigen Verfahrensstadium nicht mehr.

aa) Der Senat legt zugrunde, dass sich die Straferwartung durch die im Wege einer sog. Transparenzmitteilung zum Ausdruck gebrachte Strafprognose der Wirtschafts-kammer konkretisiert hat; diese bildet nunmehr den Ausgangspunkt der Untersu-chung des Haftgrundes in dem Sinne, dass der Angeklagte eine höhere Strafe nicht zu befürchten hat, eine höhere Bestrafung jedenfalls nicht – als bestimmte Tatsache im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO – in der gebotenen Weise hoch wahrscheinlich ist (zur Konkretisierung der Straferwartung durch das Gericht vgl. Senat StraFo 2015, 201 = StV 2015, 646 = OLGSt StPO § 112 Nr. 20).

bb) Bei der Bestimmung der – für die Entscheidung maßgeblichen – sog. Nettostraf-erwartung ist unter Anrechnung der Untersuchungshaft derzeit ein Rest von zwei Jahren und einem Monat offen. Aus diesem folgt für den Beschwerdeführer, der zu-dem ein offensichtlich hohes Interesse daran hat, sich in der Hauptverhandlung ge-gen die Tatvorwürfe aktiv zu verteidigen, kein besonderer Fluchtanreiz.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts gibt es keine „Grenze“ von etwa zwei Jahren, bei der allein aus einer solchen Straferwartung „Fluchtgefahr herzuleiten“ und nur noch zu prüfen sei, ob diese durch besondere Tatsachen wieder ausgeräumt werden könne. Der Senat hat in seiner jüngeren Rechtsprechung (vgl. Beschluss vom 3. November 2011 – 4 Ws 96/11 –; veröffentlicht in StV 2012, 350 mwN) darge-legt, dass bei der Beurteilung der Fluchtgefahr jede schematische Beurteilung an-hand genereller Maßstäbe ausscheidet, insbesondere die Annahme unzulässig ist, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich be-achtlicher Fluchtanreiz – nur darum kann es gehen, keinesfalls um den Haftgrund selbst – bestehe. Denn andernfalls käme es zu einer unzulässigen Haftgrundvermu-tung allein wegen einer bestimmten Strafhöhe. Mit der in StV 2012, 350 veröffentlich-ten Entscheidung hat sich der Senat gegen frühere Rechtsprechung, zu der auch die von der Kammer zitierte Entscheidung des Kammergerichts vom 2. März 2006 – 5 Ws 68/06 – gehörte, gewandt, und er hat die maßgeblichen Rechtsgrundsätze in der Folgezeit präzisiert. Den in der Senatsentscheidung vom 3. November 2011 enthal-tenen Rechtsgrundsätzen sind die anderen Senate des Kammergerichts in der Fol-gezeit beigetreten (vgl. etwa KG, Beschlüsse vom 27. Dezember 2011 – 2 Ws 586/11 –; vom 10. Januar 2014 – 2 Ws 1/14 –, vom 23. Juli 2014 – 3 Ws 341/14 –, vom 21. August 2014 – 1 Ws 61/14 – [juris] und vom 26. Oktober 2015 – 5 Ws 132/15 –). An den in früheren Entscheidungen enthaltenen Rechtsgrundsätzen, die dem vom Landgericht zitierten Grundsatz entsprachen, ist demgemäß nicht festzu-halten (vgl. auch Senat, Beschluss vom 29. August 2016 – 4 Ws 124/16 –). Der Se-nat braucht hier nicht zu entscheiden, ob es in Fällen besonders hoher Straferwar-tung gerechtfertigt ist, an die Tatsachen, die einen deshalb anzunehmenden beson-ders hohen Fluchtanreiz entkräften können, erhöhte Anforderungen zu stellen. Auch braucht er sich nicht mit der Frage zu befassen, bei welcher Höhe eine solche be-sonders hohe (Rest-) Straferwartung vorliegt; allerdings kämen angesichts der dar-gelegten Erwägungen insoweit nur langjährige Strafen bzw. Strafreste, um die es vorliegend indessen nicht geht, in Frage.

cc) Der Hinweis des Landgerichts, dass die Frage einer Reststrafaussetzung „derzeit ungewiss“ sei, weil diese vor allem vom Verhalten des Angeklagten im Vollzug ab-hängig sei, trifft für sich genommen zwar zu. Diese selbstverständliche Feststellung entbindet das Gericht aber nicht von seiner Verpflichtung, die für die Haftentschei-dung notwendige Prognose im Sinne eines Wahrscheinlichkeitsurteils aufgrund der zur Zeit der Haftentscheidung gegebenen Sachlage anzustellen. Die vom Landge-richt gewählte Argumentation führte demgegenüber dazu, dass zur Frage der Net-tostraferwartung die erforderliche – auch zu den übrigen Haftvoraussetzungen zu treffende und von den Haftgerichten regelmäßig getroffene – Prognoseentscheidung unterbleibt und somit gleichsam die Vollverbüßung ohne Prüfung zur Grundlage der Haftentscheidung wird.

Soweit die Staatsanwaltschaft Berlin in ihren – vom Landgericht wegen des Haft-grundes in Bezug genommenen – Stellungnahmen vom 12. April und 24. August 2016 ausgeführt hat, dass eine Reststrafaussetzung „nicht selbstverständlich“ bzw. „nicht sicher“ sei, ist dies zwar ebenfalls richtig, verfehlt aber den zutreffenden Prü-fungsansatz. Es ist allgemein anerkannt, dass – weil bei der strafprozessualen Zwangsmaßnahme der Untersuchungshaft zu fragen ist, ob ihre Verhängung (als ultima ratio) wegen überwiegender Belange des Gemeinwohls zwingend geboten ist (vgl. Senat StV 2014, 26 = StraFo 2013, 375 mwN) – die für die Untersuchungshaft erforderlichen Tatsachen mit hoher Wahrscheinlichkeit (positiv) festzustellen sind. Auch die Erwartung einer hohen, Fluchtanreiz bietenden Freiheitsstrafe ist eine „be-stimmte Tatsache“ im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO, für deren Vorliegen – soll die Haftanordnung darauf gestützt werden – eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss (vgl. Senat StraFo 2015, 108 = ZJJ 2015, 204 = OLGSt StPO § 112 Nr. 19). Da sich die Straferwartung nach dem tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug bestimmt, ist somit zu fragen, ob die Vollverbüßung der dem Beschwerdeführer dro-henden, bis zu vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe hoch wahrscheinlich ist. Dies wie-derum setzt im Rahmen der Haftentscheidung die Prognose voraus, dass der Ange-klagte keine realistische Chance auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB besitzt, diese also im konkreten Fall eher unwahrscheinlich ist.

Die Tatsache, dass die Beurteilungsgrundlage für diese Prüfung bei Entscheidungen über die Untersuchungshaft in der Regel schwach ist, rechtfertigt es nicht, die Prü-fung zu unterlassen. Bei dem Beschwerdeführer wäre im Rahmen einer Entschei-dung nach § 57 Abs. 1 StGB zu bedenken, dass der Umstand, dass er wegen zweier in den Jahren 2007/2006 bzw. 2010 begangener Fahrlässigkeitsdelikte – fahrlässiger Verletzung der Verlustanzeigepflicht und fahrlässiger Insolvenzverschleppung – zu einer (erledigten) Gesamtgeldstrafe verurteilt worden ist, nicht maßgeblich ins Ge-wicht fallen dürfte. Für ihn wird demgegenüber die Tatsache streiten, dass er beim Antritt einer zu verbüßenden (Rest-) Strafe voraussichtlich mindestens 69 Jahre alt sein und erstmals Strafhaft verbüßen wird und seine letzte Straftat dann mehr als fünf Jahre zurückliegen wird. Ausweislich der vom Senat bei der Justizvollzugsanstalt Moabit angeforderten Stellungnahme des Sozialdienstes vom 7. September 2016 hat sich der Beschwerdeführer im Vollzug der Untersuchungshaft bislang völlig bean-standungsfrei geführt; er musste insbesondere nicht disziplinarisch belangt werden und gilt bei den Mitgefangenen als vermittelnd und ausgeglichen. Auch angesichts dieses Vollzugsverhaltens erscheint, selbst bei Berücksichtigung des Organisations-grades der Taten und des langen Zeitraumes ihrer Begehung, die Annahme einer hohen Wahrscheinlichkeit, der Angeklagte werde die im Raum stehende Gesamtfrei-heitsstrafe voll verbüßen müssen, nicht gerechtfertigt. Bei einer Reststrafaussetzung zum 2/3-Zeitpunkt hätte er einen Strafrest von nur noch neun Monaten zu befürch-ten, der ihm keinen nennenswerten Fluchtanreiz mehr bietet. Auch bei einer Rest-strafaussetzung erst zu einem späteren Zeitpunkt ließe sich unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten, auch bei Beachtung möglicher Rück-forderungsansprüche, nicht annehmen, er werde wegen des ihm noch drohenden tatsächlichen Freiheitsentzuges seinen bisherigen Lebensmittelpunkt dauerhaft auf-geben und sich unter endgültiger Änderung aller wesentlichen Lebensumstände in eine ungewisse Zukunft – etwa in einem fremden Land oder im Untergrund, ggf. oh-ne die in Deutschland gesicherte medizinische Behandlung seiner gesundheitlichen Probleme – begeben. Bei der hier gegebenen Sachlage braucht sich der Senat nicht mit der weiteren Frage zu befassen, ob für den Angeklagten eine realistische, den Fluchtanreiz vermindernde Aussicht bestünde, den Rest einer rechtskräftig erkann-ten Strafe im offenen Vollzug verbringen zu können.

dd) Entgegen der Auffassung des Landgerichts und der Staatsanwaltschaft kommt dem Hinweis auf das weitere Strafverfahren, das gegen den Angeklagten (nunmehr) beim Landgericht Gö. anhängig ist, keine durchgreifende Bedeutung zu. Zwar kann bei der Beurteilung der Fluchtgefahr auch die Verfolgung des Angeklagten wegen des dringenden Verdachts weiterer Straftaten berücksichtigt werden (vgl. OLG Düs-seldorf StV 1994, 85 = MDR 1993, 371; Hilger in LR-StPO 26. Aufl., § 112 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 112 Rn 19). Das Haftgericht, das ein sol-ches weiteres Verfahren berücksichtigen will, muss aber feststellen, dass – und we-gen welcher Taten – in jenem Verfahren dringender Tatverdacht besteht. Jedenfalls daran fehlt es hier. Ob dem Beschwerdeführer in jenem Verfahren zeitnah eine Sanktionierung droht, erscheint im Übrigen bei derzeitiger Würdigung nicht ganz zweifelsfrei. Nachdem zwei Urteile des Landgerichts Hi. (vom 26. Juni 2009 bzw. 21. Januar 2013) jeweils in der Revisionsinstanz zum Teil aufgehoben worden sind und die Sache, soweit nicht die Teilfreisprechungen des Beschwerdeführers rechtskräftig geworden sind, zuletzt mit Urteil des Bundesgerichtshofes vom 9. Januar 2014 an das Landgericht Gö. zurückverwiesen worden ist, ist das bereits seit vielen Jahren anhängige Verfahren zuletzt ersichtlich nicht mehr gefördert worden. Das Landge-richt Gö. hat vielmehr mitgeteilt, dass es vor einer Terminierung den Ausgang des hiesigen Verfahrens abwarten will.

ee) Der weitere Hinweis darauf, dass ein vom Angeklagten geltend gemachter positi-ver Faktor bei den sozialen Bindungen „nicht belegt“ sei, deutet auf einen unzutref-fenden Entscheidungsansatz hin. Es kommt nicht darauf an, dass der Untersu-chungsgefangene bestimmte Gesichtspunkte nachweisen müsste, die einer vom Ge-richt angenommenen, aus der Straferwartung abgeleiteten Fluchtgefahr entgegen-stehen. Da vielmehr das Haftgericht die für die Untersuchungshaftanordnung erfor-derlichen Tatsachen mit hoher Wahrscheinlichkeit (positiv) festzustellen hat, ist es gehalten, die nötigen Ermittlungen im Freibeweisverfahren anzustellen. Wollte das Landgericht dem Gesichtspunkt eines fehlenden Nachweises eine für die Haftent-scheidung maßgebliche Bedeutung zumessen, hätte es überdies nahe gelegen, dem Beschwerdeführer die Gelegenheit zu geben, den vom Gericht vermissten Nachweis zu erbringen, statt ohne weiteres, jedenfalls ohne eigene Prüfung, ungesicherte Wohnverhältnisse zugrunde zu legen.

ff) Es liegt auf der Hand, dass der Umstand, dass der 68-jährige Angeklagte einen erwachsenen Sohn hat (der nach den Feststellungen des Urteils des Landgerichts Hi. vom 13. Januar 2013 damals 34 Jahre alt war und bei der Region Ha. als Beam-ter arbeitete), die Annahme von Fluchtgefahr nicht trägt. Auch die Tatsachen, dass er (von seiner zweiten Ehefrau seit Juli 2012) geschieden ist und vor seiner Fest-nahme allein lebte, stellen keine fluchtgefahrbegründenden Aspekte dar, sondern bezeichnen allenfalls das Fehlen besonderer stabilisierender, fluchthemmender Um-stände.

gg) Der in ihrer Stellungnahme vom 12. April 2016 enthaltene Hinweis der Staatsan-waltschaft Berlin, es deute „derzeit nichts auf ein Geständnis des Angeklagten hin“, ist für die Beurteilung des Haftgrundes nicht – jedenfalls nicht für sich genommen und nicht unmittelbar – von Belang. Dieser Hinweis und der im Zusammenhang mit den Ausführungen zu § 57 Abs. 1 StGB angefügte Zusatz, dass der Beschwerdefüh-rer „nach dem bisherigen Verfahrensverlauf“ nicht sicher mit einer positiven Progno-seentscheidung rechnen könne, lassen besorgen, dass dem Angeklagten bei der Haftfrage sein Bestreiten und seine nachdrückliche Verteidigung gegen die Tatvor-würfe unzulässig angelastet werden.

2. Mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen braucht sich der Senat angesichts des Fehlens eines Haftgrundes nicht zu befassen; eine hinreichende Beurteilung er-forderte auch die Auswertung der Hauptverhandlung, die ihm auf der Grundlage der übersandten Aktendoppel nicht möglich ist. Angesichts der aus den Doppelakten er-sichtlichen Verfahrensdaten ist allerdings festzustellen, dass jedenfalls die Terminie-rung seit dem 1. August 2016 den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die ge-botene Verhandlungsdichte nicht zu genügen vermag. Der Senat stellt erneut aus-drücklich klar, dass es in diesem Zusammenhang nicht auf eine persönliche Vorwerf-barkeit ankommt und auch nicht in Frage zu stellen ist, dass die beteiligten Richter und Staatsanwälte das ihnen Mögliche tun. Vielmehr beruht nach den Darlegungen des Kammervorsitzenden die geringe Verhandlungsdichte in erster Linie auf den per-sonellen Problemen und der Belastung der Wirtschaftskammer und damit letztlich auf der defizitären Ausstattung der Justiz mit personellen und sächlichen Mitteln. Die Mangelausstattung beim Landgericht Berlin besteht nicht nur kurzfristig und war nicht unvorhersehbar, sondern sie ist – dies zeigen beispielsweise die immer wieder anzu-treffenden Beteiligungen kammerfremder Mitglieder an der Spruchbesetzung und auch die Heranziehung zu oftmals langwierigen Ergänzungsrichtereinsätzen – struk-turell bedingt; sie kann keine Rechtfertigung für die Fortdauer von Untersuchungshaft bieten (vgl. zuletzt etwa KG, Beschluss vom 3. Juni 2016 – [5] 141 HEs 41/18 [8/16] – mwN), zumal wenn diese – wie hier – schon nahezu zwei Jahre andauert. Die der staatlich verfassten Gemeinschaft zuzurechnende Unterausstattung der Strafjustiz und die daraus folgende strukturelle Überlastung auch der mit Haftsachen befassten Gerichte fallen nicht den in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten zur Last.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse Berlin, weil kein an-derer für sie haftet (vgl. BGHSt 14, 391; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 464 Rn. 2, § 473 Rn. 2); die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Ver-urteilten, die hier zu treffen war (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 464 Rn. 11a mwN), beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO (vgl. LR-Hilger, StPO 26. Aufl., § 473 Rn. 14).


Einsender: RiKG K. P. Hanschke, Berlin

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