Gericht / Entscheidungsdatum: AG Gießen, Beschl. v. 29.06.2016 - 507 Ds 604 Js 35439/13
Leitsatz: 1. Nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt, der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG verdient.
2. Eine Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO ist auch nach Rücknahme der Anklage ein Anwendungsfall der Nr. 4141 Anm. 1 Satz 1 Nr. 1 VV RVG.
Amtsgericht Gießen
507 Ds 604 Js 35439/13
Kostenfestsetzungsbeschluss
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger: wegen
falscher uneidlicher Aussage
hat das Amtsgericht Gießen durch Richterin am Amtsgericht am 29.06.2016 beschlossen:
Die Höhe der notwendigen Auslagen der ehemals Angeklagten gem. des Antrags ihres Prozessbevollmächtigten vom 11.04.2016 gegen die Staatskasse wird wie folgt festgesetzt:
1. Die zu erstattenden notwendigen Auslagen der ehemals Angeklagten betragen 925,11 Euro inkl. USt.
2. Die festgesetzten Auslagen sind von dem Tage der Anbringung des Festsetzungsantrags an mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen.
Gründe:
I.
Nach Einreichung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Gießen vom 13.11.2014 wurde der ehemals Angeklagten diese gem. § 201 StPO am 13.12.2014 zugestellt. Ein Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 207 StPO erging nicht. Vielmehr wurde der Ausgang des Strafverfahrens gegen pp., AZ: 505 Ls - 604 Js 29257/13 abgewartet, da dieses für das hiesige Verfahren von Relevanz war. Die ehemals Angeklagte wurde während des gesamten gegen sie geführten Strafverfahrens durch Rechtsanwalt Alexander Hauer vertreten, der dem Gericht auch seinerzeit durch Schriftsatz vom 23.01.2015 anriet, den Ausgang jenes Verfahrens abzuwarten. Der gesondert Verfolgte pp. wurde am 17.11.2015 rechtskräftig freigesprochen. Dem Prozessbevollmächtigten der ehemals Angeklagten wurde mit Schreiben des Gerichts vom 25.02.2016 das rechtskräftig freisprechende Urteil gegen den Angeklagten pp. zur Kenntnisnahme übersandt. Gleichzeitig wurde diesem fernmündlich mitgeteilt, dass die Staatsanwaltschaft die hiesige Anklage gegen pppp. vom 13.11.2014 zurückgenommen hat. In der Folge beantragte der Prozessbevollmächtigte der ehemals Angeklagten mit Schriftsatz vom 03.03.2016 ggü. der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die zurückgenommene Anklage das Verfahren endgültig gem. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen und die der ehemals Angeklagten entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Eine entsprechende Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft erging am 11.03.2016 zusammen mit dem Antrag an das Gericht nach Maßgabe von § 467a Abs. 1 StPO die notwendigen Auslagen der ehemals Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen. Eine dementsprechende Kostengrundentscheidung erging durch das Gericht am 22.03.2016. Mit Kostenfestsetzungsantrag vom 11.04.2016 machte der Prozessbevollmächtigte der ehemals Angeklagten notwendige Auslagen wie folgt geltend:
1. Grundgebühr (gem. Nr. 4100 VV RVG) 200,00 EUR
2. Verfahrensgebühr (gem. Nr. 4106 VV RVG) 165,00 EUR
3. Pauschale für Kopien und Ausdrucke (gem. Nr. 7000.1a) VV RVG) 42,40 EUR
4. Pauschale Post/Telekommunikation (gem. Nr. 7002 VV RVG) 20,00 EUR
5. Verfahrensgebühr Ermittlungsverfahren (gem. Nr. 4104 VV RVG) 165,00 EUR
6. Entbehrliche Hauptverhandlung (gem. Nr. 4141 VV RVG) 165,00 EUR
7. Pauschale Post/Telekommunikation (gem. Nr. 7002 W RVG) 20,00 EUR
Summe
+ USt. (gem. Nr. 7008 W RVG) 777,40 EUR 147,71 EUR 925,11 EUR
II.
Die Grundgebühr (gem. Nr. 4100 W RVG) in Höhe von 200,00 EUR (exkl. USt.) ist angefallen, da diese neben der Verfahrensgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall bei der Übernahme des Mandats entsteht.
Gegen die Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht (gem. Nr. 4106 VV RVG) in Höhe von 165,00 EUR (exkl. USt.) bestehen keine Bedenken, da dem hier Prozessbevollmächtigten erst nach Eingang der Anklageschrift bei Gericht Strafprozessvollmacht durch die ehemals Angeklagte erteilt wurde und er erst ab diesem Zeitpunkt seine Tätigkeit mit der Anforderung der Akten zur Einsichtnahme begann.
Auch sind in der Folge die in diesem Verfahrensstadium geltend gemachten Auslagenpauschalen für Kopien und Ausdrucke aus Behörden- und Gerichtsakten und für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen in jeweils oben aufgeführter Höhe entstanden.
Gegen die Festsetzung der soeben aufgeführten Beträge bestanden durch die angeforderte Stellungnahme der Bezirksrevisorin beim Landgericht Gießen vom 02.05.2016 keine Bedenken. Einwendungen wurden bloß gegen die darüber hinaus beantragten Auslagen erhoben. Demnach sei keine Gebühr für das Vorverfahren nach 4104 VV RVG angefallen, da diese nicht rückwirkend nach einer Anklagerücknahme entstehen könne. Auch die weitere Gebühr für die entbehrlich gewordene Hauptverhandlung nach 4141 VV RVG sei nicht angefallen, da keine Mitwirkung des Prozessbevollmächtigten an der Einstellung des Verfahrens ersichtlich sei.
Diese Ausführungen können im Ergebnis nicht überzeugen. Vielmehr sind auch diese geltend gemachten Posten dem Antragsteller zu erstatten.
Das gerichtliche Hauptverfahren wurde vorliegend noch nicht eröffnet, so dass die Staatsanwaltschaft die Anklage noch jederzeit zurücknehmen konnte, vgl. § 156 StPO. Als sie dies schlussendlich tat, versetzte sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens / vorbereitendes Verfahrens zurück (vgl. Meyer-Goßner StPO, 57. Aufl. § 156 Rn. 2), weshalb die Verfahrensgebühr Ermittlungsverfahren (gem. Nr. 4104 VV RVG) in Höhe von 165,00 EUR zusätzlich angefallen ist. Das Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO) wird durch die Rücknahme jedoch nicht berührt. Die Rücknahme kann darauf beruhen, dass die Klage nachträglich als unbegründet erscheint. In diesem Fall kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach der Rücknahme der Klage einstellen, was vorliegend schließlich auch am 11.03.2016 erfolgte. Dass eine Rücknahme der Anklage automatisch eine Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 StPO nach sich zieht, ist hingegen nicht zwingend der Fall. Ebenso hätte die Klage erneut oder in abgeänderter Form eingereicht werden können. Auch kann die Rücknahme den Zweck verfolgen, das Verfahren nach den Opportunitätsbestimmungen der §§ 153 ff. StPO einzustellen. Durch die erfolgte Rücknahme der Klage ist vorliegend weder partielle, noch vollständige materielle Rechtskraft in dem Strafverfahren gegen die ehemals Angeklagte eingetreten.
Auch die Gebühr für die entbehrliche Hauptverhandlung (gem. Nr. 4141 VV RVG) in Höhe von 165,00 EUR ist angefallen. In Nr. 4141 Anm. 1 Satz 1 Nr. 1 VV RVG ist der Fall der Einstellung des Strafverfahrens geregelt. In welchem Verfahrensstadium die Einstellung erfolgt, ist ohne Bedeutung. Anm. 1 Satz 1 Nr. 1 enthält keine zeitliche Beschränkung mit Ausnahme des Umstandes, dass durch die Einstellung eine Hauptverhandlung entbehrlich geworden sein muss. Die Einstellung kann also sowohl im vorbereitenden als auch noch im gerichtlichen Verfahren erfolgen (vgl. Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 4. Aufl., Nr. 4141 W RVG Rn. 19). Unerheblich ist auch, ob die Staatsanwaltschaft oder das Gericht das Verfahren einstellt. Nr. 4141 Anm. 1 Satz 1 Nr. 1 VV RVG setzt jedoch eine nicht nur vorläufige Einstellung des Strafverfahrens voraus. Mit diesem Begriff ist nicht der prozessuale Begriff der vorläufigen Einstellung", wie er z.B. in § 154 Abs. 1 StPO verwandt wird, im Gegensatz zur endgültigen Einstellung gemeint. Der prozessuale und der gebührenrechtliche Begriff der vorläufigen Einstellung unterscheiden sich vielmehr. Gemeint ist mit nicht nur vorläufig" im Sinne des RVG, dass Staatsanwaltschaft und/oder Gericht subjektiv von einer endgültigen Einstellung ausgegangen sind, sie also das Ziel einer endgültigen Einstellung hatten (AnwKomm-RVG/N. Schneider, W 4141 Rn. 33 ff.; Gerold/Schmidt/Burhoff, W 4141 Rn. 16; Burhoff, a.a.O., Nr. 4141 VV RVG Rn. 20). Eine wie vorliegend ergangene Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO ist auch nach Rücknahme der Anklage ein solcher Anwendungsfall der Nr. 4141 Anm. 1 Satz 1 Nr. 1 VV RVG (vgl. LG Köln StV 2004, 34 = AGS 2003, 544). Auch hat der hiesige Prozessbevollmächtigte an der Entbehrlichkeit der Hauptverhandlung mitgewirkt. Als Mitwirkung reicht jede Tätigkeit des Verteidigers aus, die geeignet ist, das Verfahren im Hinblick auf eine Erledigung durch Einstellung zu fördern (vgl. u.a. BGH RVGreport 2008, 431 AGS 2008, 491; OLG Stuttgart AGS 2010, 202). Es ist unerheblich, in welchem Verfahrensabschnitt die Mitwirkung erbracht wird (vgl. auch Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 4. Aufl., Nr. 4141 VV Rn. 14 ff.). Ausreichend ist, dass ein in einem früheren Verfahrensabschnitt erbrachter Beitrag des Verteidigers bei der Einstellung in einem späteren Verfahrensabschnitt, in dem es dann zur Erledigung des Verfahrens kommt, noch fortwirkt. Bereits nach Anklagezustellung riet vorliegend der Prozessbevollmächtigte der ehemals Angeklagten den Abschluss des Verfahrens gegen den gesondert Verfolgten pp. abzuwarten, da dessen Ausgang für vorliegendes Verfahren von Relevanz sei. Nach fernmündlicher Mitteilung der Anklagerücknahme im hiesigen Verfahren und Übersendung des freisprechenden Urteils gegen den gesondert Verfolgten pp., stellte der Prozessbevollmächtigte Hauer vor dem Hintergrund der oben bereits ausgeführten weiteren Handlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft nach einer Klagerücknahme nach Prüfung der weiteren Vorgehensmöglichkeiten mit Schriftsatz vom 03.03.2016 bei der Staatsanwaltschaft den Antrag auf Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO. Diesem Antrag wurde mit der Einstellungsentscheidung vom 11.03.2016 entsprochen.
Abschließend kann die Entgeltpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen auch in diesem Verfahrensstadium zusätzlich eingefordert werden, da Nr. 7002 Anm. 1 VV RVG vorgibt, dass diese in jeder Angelegenheit gefordert werden kann und § 17. Nr. 10 RVG klarstellt, dass das Ermittlungsverfahren /vorbereitende Verfahren und das erstinstanzliche Verfahren verschiedene Angelegenheiten sind.
Der Anspruch auf Verzinsung der festgesetzten Auslagen ergibt sich aus § 464b Satz 2 und 3 StPO i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
Einsender: RA A. Hauer, Gießen
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