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Entscheidungen

OWi

Einspruchsverwerfung, angekündigte Verspätung, Wartepflicht

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 21.07.2016 - 3 Ws (B) 382/16 - 122 Ss 107/16

Leitsatz: Kündigt der Betroffene 15 Minuten vor Terminsbeginn eine Verspätung von bis zu 30 Minuten an, weil er 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt in einem Taxi im Stau steht, so darf das Amtsgericht seinen Einspruch auch dann nicht nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen, wenn es die weiteren Verfahrensbeteiligten eilig haben.


Kammergericht
Beschluss
Geschäftsnummer: 3 Ws (B) 382/16 - 122 Ss 107/16
In der Bußgeldsache
gegen pp.
wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit

hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 21.07.2016 beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 26. April 2016 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben, und die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.

Gründe:
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 1. Dezember 2015 nach § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache verworfen, weil er trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Hauptverhandlung und ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen und von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden worden sei. Die gegen dieses Urteil gerichtete Rechtsbeschwerde hat mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist nach § 79 Abs. 3
Satz 3 OWiG iVm § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig erhoben. Zwar enthält die mit dem Wiedereinsetzungsantrag verbundene Rechtsbeschwerdebegründung keinen ausdrücklichen Rechtsbeschwerdeantrag. Sie lässt jedoch erkennen, dass der Betroffene das Urteil insgesamt beanstandet und die Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung begehrt. Dies genügt (vgl. Senat, zuletzt 3 Ws (B) 264/15 mwN), zumal ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG nur in vollem Umfang angefochten werden kann (vgl. KG, Beschluss vom 11. April 2011 – 2 Ss 117/11 – [§ 329 StPO]).

2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet. Das Amtsgericht hätte, nachdem es von einer 15 Minuten nicht erheblich überschreitenden Verspätung des Betroffenen wusste, dessen Einspruch nicht ohne weiteres Zuwarten verwerfen dürfen.

a) Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten (vgl. VerfGH Berlin NJW-RR 2000, 1451) die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt (vgl. OLG Köln VRS 42, 184 f.; BayObLG VRS 47, 303; 60, 304; 67, 438 f.; StV 1985, 6 f.; 1989, 94 f.; NJW 1995, 3134; OLG Stuttgart MDR 1985, 871 f.; OLG Düsseldorf StV 1995, 454 f.; OLG Hamm NZV 1997, 408 f.; ebenso zu den Anforderungen an den Erlass eines Versäumnisurteils wegen Nichterscheinens vor Gericht: OLG Dresden NJW-RR 96, 246 und BGH NJW 1999, 724 f.). Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. Senat VRS 123, 291 mwN). Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (vgl. Senat, aaO).

b) Nach dem überwiegend durch das Hauptverhandlungsprotokoll und die Urteilsfeststellungen bewiesenen und in weiteren Details glaubhaften Tatsachenvortrag der Verfahrensrüge bestiegen der Betroffene und sein Verteidiger am Terminstag um 8.30 Uhr ein Taxi, um die auf 9.15 Uhr bestimmte Hauptverhandlung wahrzunehmen. Etwa 1,5 Kilometer vom Gerichtsort entfernt staute sich der Verkehr. Der Verteidiger unterrichtete um 9.01 Uhr die Geschäftsstelle des Amtsgerichts, dass und wo er im Stau stehe und dass es zu einer Verspätung um 15 bis 30 Minuten kommen könne. Um 9.25 Uhr erreichte das Taxi das Amtsgericht, um 9.32 Uhr betraten der Betroffene und sein Verteidiger den Gerichtssaal. Zwei Minuten zuvor hatte das Amtsgericht die Sache aufgerufen, einen Zeugen und den Sachverständigen entlassen und den Einspruch des Betroffenen durch das angefochtene Urteil verworfen.

c) Dieses Geschehen erweist, dass das Amtsgericht wusste, dass der Betroffene seinen Einspruch weiterverfolgen wollte und sich verspäten würde. Es war dem Amtsgericht auch zuzumuten zu warten. Denn der Verteidiger hatte 14 Minuten vor der Terminsstunde mitgeteilt, dass er sich etwa 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt im Stau befinde. Damit ergab sich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene und sein Verteidiger allenfalls kurz nach dem Ablauf der üblichen Wartezeit von 15 Minuten erscheinen würden.

d) Die Ausführungen des Amtsgerichts, ein weiteres Zuwarten sei nicht zumutbar gewesen, überzeugen nicht.

aa) Unzutreffend ist zunächst, dass zum geplanten Aufruf der nächsten Bußgeldsache um 9.35 Uhr „nach der eigenen Einschätzung des Verteidigers und seines Mandanten noch lange nicht mit ihrem Eintreffen zu rechnen war“. Der Bußgeldrichter wusste, dass der Betroffene und sein Rechtsanwalt um 9.01 Uhr ca. 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt im Stau standen. Dass sie deutlich nach 9.30 Uhr erscheinen würden, war damit unwahrscheinlich, und tatsächlich betraten sie um 9.32 Uhr den Saal.

bb) Dass der zum hier gegenständlichen und zu dem nachfolgenden, auf 9.35 Uhr anberaumten Termin geladene Sachverständige, wie das Urteil ausführt, erklärt habe, „länger als bis 10.05 Uhr könne er keineswegs im Saal K 2105 anwesend sein“, führt nicht dazu, dass das Amtsgericht kurzen Prozess machen durfte. Wie dargelegt, war abzusehen, dass die ausdrücklich angekündigte Verspätung 15 Minuten nur geringfügig und jedenfalls nicht erheblich überschreiten würde. Sollte der Sachverständige seine Termine tatsächlich so eng getaktet haben, dass ein Verzug nicht abgefedert werden konnte, so wäre dies unangemessen.

cc) Nichts anderes ergibt sich schließlich daraus, dass der als Zeuge geladene Polizeibeamte nach Auffassung des Gerichts „nicht länger warten konnte“. Verzögerungen des hier in Rede stehenden Umfangs muss der polizeiliche Zeuge ebenso in Rechnung stellen wie die Vorsitzenden anderer Gerichte, die den Zeugen gleichfalls geladen haben.

e) Zwar trifft es zu, dass das Amtsgericht nicht nur die Interessen des Betroffenen, sondern auch die Belange anderer Verfahrensbeteiligter und eine geordnete Gestaltung des ohnehin einer Vielzahl von Unwägbarkeiten und Störungen ausgesetzten Verhandlungstags im Blick haben darf und muss. Bei der hier zu beurteilenden Sachlage – der Betroffene meldet sich noch vor Terminsbeginn und befindet sich bereits in letztlich fußläufiger Nähe zum Gerichtsgebäude – überwiegen freilich die verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzgarantien. Sie gebieten weiteres Zuwarten.

f) Dass dem Betroffenen bei der Verspätung „grobe Fahrlässigkeit“ oder Mutwillen zur Last fiele und daher dem Gebot der termingerechten Durchführung der Hauptverhandlung der Vorrang gebührte, erweist das Urteil nicht, und es ist auch nicht ersichtlich.

3. Der Senat hebt daher das Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurück.


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