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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Verteidigungsunfähigkeit, Drogenabhängiger

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 23.02.2016 - 3 Ws 87/16

Leitsatz: 1. Ob ein Beschuldigter im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falls.
2. Bei einem Drogenabhängigen mit polytoxem Abhängigkeitsmuster versteht es sich nicht von selbst, dass er verteidigungsunfähig ist. Als Indiz hierfür wäre es zu bewerten, wenn er unter Betreuung stünde.


Kammergericht
Beschluss
Geschäftsnummer: 3 Ws 87/16 - 141 AR 96/16
In der Strafsache
gegen pp.
wegen Körperverletzung u. a.
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 23. Februar 2016 beschlossen:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Strafkammervorsitzenden des Landgerichts Berlin vom 29. Dezember 2015 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:
Das Amtsgericht T. hat den Angeklagten am 15. September 2015 wegen Körperverletzung und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen hatte der alkoholisierte und unter dem Einfluss von Rohypnol stehende Angeklagte eine Flasche in Richtung von bei einem Imbissstand stehenden Personen geworfen und danach den Imbissbetreiber, der ihn bis zum Eintreffen der Polizei festhalten wollte, verletzt. Auch bei der Festnahme durch die Polizei hatte er sich gewehrt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte am 21. September 2015 und damit rechtzeitig Berufung eingelegt und zugleich beanstandet, dass der Zeuge F. nicht zur Hauptverhandlung geladen worden sei. Wenige Tage später ist eine Stellungnahme des Drogenberatungsverbunds „vista“ zu den Akten gelangt. Darin heißt es: „Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Herr S. seit dem 29.9.2014 durch unsere Einrichtung beraten und vermittelt wird. Herr S. hält seine Termine in unserer Beratungsstelle zuverlässig ein und arbeitet mit, hinsichtlich seiner Abhängigkeit von Opiaten und Alkohol eine dauerhafte Abstinenz zu erreichen … Insgesamt zeigt Herr S. ein polytoxes Abhängigkeitsmuster, weshalb es zur Zeit auch schwer fällt, sich um relevante Belange seines täglichen Lebens zu kümmern.“ Unter dem 2. Dezember 2015 hat der Angeklagte beantragt, einen Pflichtverteidiger für das Berufungsverfahren beizuordnen. Diesen Antrag hat das Landgericht mit der angefochtenen Entscheidung abgelehnt und ausgeführt, die Straferwartung gebiete die Beiordnung nicht, und es sei auch nicht ersichtlich, dass der Angeklagte sich aufgrund seiner Drogenabhängigkeit nicht selbst verteidigen könne.

Hiergegen wendet sich der mittlerweile durch einen Rechtsanwalt verteidigte Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Beschwerde. Der Verteidiger führt aus, er habe den Angeklagten in einer Hilfseinrichtung für Drogenabhängige kennengelernt. Der Angeklagte mache den Eindruck eines „alten und schwer kranken Mannes … im Endstadium einer denkbar schweren multitoxischen Erkrankung“.

Das Rechtsmittel ist zulässig, führt aber nicht zum Erfolg. Die Vorsitzende der Strafkammer hat zu Recht davon abgesehen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen.

1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO liegt nicht vor. Zudem gebieten weder die Schwere der Tat (§ 140 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 StPO) noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage (§ 140 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO) die Mitwirkung eines Verteidigers; auch ist nicht ersichtlich, dass sich die Angeklagte nicht selbst verteidigen kann (§ 140 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 StPO).

a) Die nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung zu beurteilende Schwere der Tat veranlasst die Beiordnung schon deshalb nicht, weil das Amtsgericht gegen den Angeklagten lediglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verhängt hat. Mit einer schwereren Sanktion muss der Angeklagte wegen des prozessualen Verböserungsverbots (§ 331 StPO) nicht rechnen. Die im Hinblick auf die Straferwartung für die Mitwirkung eines Verteidigers maßgebliche Grenze liegt jedoch bei etwa einem Jahr Freiheitsstrafe (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 14. August 2006 – 3 Ws 416/06 -, 19. Dezember 2006 - 3 Ws 615/06 –,17. Januar 2007- 3 Ws 10/07 –, 10. September 2008 - 3 Ws 263/08 -, 11. Juni 2009 – 3 Ws 251/09 –, 29. Juni 2009 – (3) 1 Ss 129/09 (77/09) –, 17. November 2009 - 3 Ws 619/09 – und 14. Dezember 2009 - 3 Ws 697/09 -; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 58. Aufl., § 140 Rn. 23).

b) Auch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage veranlasst die Beiordnung eines Pflichtverteidigers hier nicht. Das Verfahren in der Berufungsinstanz birgt keine besonderen Schwierigkeiten. Der Sachverhalt ist einfach gelagert, überschaubar und dem Angeklagten umfassend bekannt.

c) Die Beschwerdeschrift behauptet zwar nicht ausdrücklich, dass der Angeklagte verteidigungsunfähig sei. Im Hinblick auf die Ausführungen zu seinem Erscheinungsbild ist aber ersichtlich, dass dies dargetan werden soll. Auch dieser Einwand gebietet die Beiordnung eines Verteidigers nicht.

aa) Die Verteidigungsfähigkeit eines Beschuldigten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falls (vgl. OLG Nürnberg StRR 2014, 242 [Volltext bei juris] mwN; KG StV 1985, 449). Bei körperlichen, geistigen und seelischen Gebrechen kommt es jeweils auf den Grad der Behinderung und die sonstigen Umstände des Falles an (vgl. KG StV 1985, 449; Senat, Beschluss vom 14. August 2006 - 3 Ws 416/06 -; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 140 Rn. 30, mwN). Als Indiz für eine mögliche Verteidigungsunfähigkeit ist es zu bewerten, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht (vgl. Senat, Beschluss vom 31. Januar 2013 – 3 Ws 49/13 -; OLG Hamm, NJW 2003, 3286; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 140 Rn. 30 mwN).

bb) Nach dieser Maßgabe erscheint der Angeklagte – nach gegenwärtiger und auf Aktenlage basierender Einschätzung des Beschwerdegerichts – nicht unfähig, sich selbst zu verteidigen. Der drogenabhängige Angeklagte war im ersten Rechtsgang nicht verteidigt, ist aber zum Hautverhandlungstermin am 15. September 2015, zu dem er bereits mehr als zwei Monate zuvor geladen worden war, erschienen. Er hat binnen Wochenfrist und damit rechtzeitig schriftlich das zulässige Rechtsmittel, die Berufung, eingelegt. Zeitgleich hat er eingewandt, in erster Instanz sei ein wichtiger Zeuge übergangen worden. Er hat diesen sodann namentlich bezeichnet und beantragt, dass der Zeuge in der Berufungshauptverhandlung geladen werden solle. Die Drogenberatungseinrichtung „vista“ hat zwar bekundet, der Angeklagte zeige ein polytoxes Abhängigkeitsmuster, aber zugleich die hohe Abstinenzmotivation des Probanden und seine Zuverlässigkeit in der Zusammenarbeit dargetan.

Diesen insgesamt für die Verständigkeit und Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten streitenden Umständen steht zwar die nicht weniger als katastrophal zu bezeichnende Einschätzung des Verteidigers gegenüber, der u. a. erklärt, der Angeklagte sei „permanent umnachtet und auf Hilfe angewiesen“, er, der Verteidiger, habe „selten einen hilfsbedürftigeren Mandanten gesehen“, und der Angeklagte habe das Rechtsmittel nur durch fremde Hilfe einlegen können.

Die Einschätzung des Verteidigers, sein Mandant sei nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, findet aber im Tatsächlichen keine Bestätigung. Zwar ist es nachvollziehbar und mangels gegenteiliger Anhaltspunkte glaubhaft, dass der Angeklagte in den Räumen der Drogenhilfstelle „Fixpunkt“ einen Ansprechpartner hat, der ihm auch bei der Abfassung der Berufungsschrift geholfen hat. Der Inhalt dieses Schriftstücks deutet aber zum einen gerade darauf hin, dass der Angeklagte der Hauptverhandlung folgen konnte. Zum anderen legt er nahe, dass es der Angeklagte selbst war, der einen tatsächlichen oder vermeintlichen Schwachpunkt des Urteilsspruchs erkannt und daraus gefolgert hat, seine Chancen stünden in nächster Instanz besser, wenn ein weiterer Zeuge geladen wird. Dass er diesen namentlich benannt und zu laden beantragt hat, stellt sich – allem Anschein nach – als vernünftiges Verteidigungshandeln dar, das auf den Angeklagten selbst zurückgeht.

Der Angeklagte steht auch nicht unter Betreuung, und der Verteidiger, der nach eigenem Bekunden in einer Drogenberatungsstelle Rechtsberatung betreibt und daher gleichermaßen über Erfahrung im Umgang mit Drogenabhängigen und Verantwortungsbewusstsein verfügen dürfte, hat nicht dargelegt, dass er eine Betreuungsanordnung veranlasst habe oder auch nur für angezeigt hielte. Eine ärztliche Bescheinigung, welche die Einschätzung des Verteidigers belegen könnte, ist nicht zu den Akten gereicht worden.

2. Das Verfahren weist auch keine Besonderheiten auf, die über die in § 140 StPO gesetzlich geregelten Fälle der notwendigen Verteidigung hinaus aus dem Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 6 MRK) die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert hätten. Insbesondere gewährt die Bestimmung des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c MRK kein uneingeschränktes Recht auf unentgeltliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Dieses ist vielmehr eingeschränkt zum einen durch die vorrangige Ausschöpfung der finanziellen Möglichkeiten des Angeklagten und zum anderen durch das Erfordernis eines entsprechenden Bedarfs im Interesse der Rechtspflege (Senat, Beschluss vom 17. Januar 2007 - 3 Ws 10/07 -; OLG Hamm NStZ-RR 2000, 160). Ein solcher ist hier aber, wie dargelegt, nicht erkennbar.

Wenn sich in der Berufungshauptverhandlung oder davor anderes ergibt, ist die Vorsitzende der Strafkammer nicht daran gehindert, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen.

3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Einsender: RiKG K. P. Hanschke, Berlin

Anmerkung:


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