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Leitsatz: Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung muss ein Abstandsmessverfahren, das auch gerichtlicher Schuldfeststellung zugrunde gelegt werden kann, nach festen Regeln oder Richtlinien durchgeführt werden. Das gilt auch für Fälle, in denen von einem Polizeifahrzeug aus durch den Rückspiegel ein unzulässig niedriger Abstand des nachfolgenden Fahrzeugs beobachtet und nach Anhalten jenes Fahrzeugs auf einer Standspur eine Rekonstruktion des Abstandes an Hand von Merkmalen vorgenommen wird, die die Polizeibeamten sich bei der Beobachtung durch den Rückspiegel eingeprägt hatten.
Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen Geschäftszeichen: 1 SsBs 67/15 BESCHLUSS in der Bußgeldsache gegen pp. Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin Mareike Pfeiffer, Bremen, wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der Senat für Bußgeldsachen nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft Bremen durch die Richterin am Oberlandesgericht am 24.09.2015 beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bremerhaven vom 09. Dezember 2014 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbe-schwerde - an das Amtsgericht Bremerhaven zurückverwiesen.
Gründe: I. Das Amtsgericht Bremerhaven hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Nichteinhaltens des erforderlichen Abstandes zu einer Geldbuße von 240 verurteilt und ein Fahrverbot von zwei Monaten verhängt. Die Abstandsmessung ist durch Polizeibeamte erfolgt, die dem vom Betroffenen geführten Fahrzeug vorausgefahren sind und das Fahrzeug des Betroffenen durch den eigenen Rückspiegel beobachtet haben. Dagegen wendet sich der Betroffene mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde. Die Gene-ralstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 22.07.2015 beantragt. das Urteil mit sei-nen Feststellungen aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Auf den Inhalt der Stellungnahme wird ergänzend verwiesen.
II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Für den Inhalt der Urteilsgründe im Bußgeldverfahren gilt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren (Hans. OLG Bremen NZV 2010, 42, 43). Tatvorwurf ist eine Unterschreitung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO einzuhaltenden Sicherheitsabstands, die in der Weise festgestellt wurde, dass zwei Polizeibeamte auf der Autobahn über eine Strecke von ca. 1.500 Metern bei einer auf dem nicht justierten Tacho angezeigten Geschwindigkeit von durchgängig mindestens 130 km/h das nachfolgende Auto der Betroffenen in zwei für den Fahrer und den Beifahrer an-gebrachten Rückspiegeln beobachteten, sich merkten, welchen Teil der Front des nachfolgen-den Fahrzeugs sie auf welche Entfernung sehen konnten (das Kennzeichen teilweise gar nicht mehr) und dann auf dem Standstreifen beide Fahrzeuge in einem solchen Abstand aufstellten, dass bei einem Blick in den Rückspiegel das Fahrzeug der Betroffenen genauso weit entfernt erschien wie während der Fahrt. Der Abstand wurde dabei mit einem geeichten Messrad mit 7,50 m gemessen. Wegen der Ungenauigkeit der rein optischen Wahrnehmung wurde der ge-messene Abstand für den Vorwurf an die Betroffene verdoppelt. also auf 15 m erhöht. Von der auf dem Tachometer abgelesenen geringsten Geschwindigkeit von 130 km/h wurde ein Tole-ranzwert von 20 % abgezogen, für den Tatvorwurf mithin eine Geschwindigkeit von 104 km/h zugrunde gelegt.
Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung muss ein Abstandsmessverfahren, das auch gerichtlicher Schuldfeststellung zugrunde gelegt werden kann, nach festen Regeln oder Richtlinien durchgeführt werden (OLG Düsseldorf VRS 68, 229, 231; OLG Koblenz VRS 71, 67, 68; Hans. OLG Bremen, Beschluss vom 29.05.2006 Ss (B) 7/06 -; OLG Celle NZV 1993, 490; OLG Hamm, Beschluss vom 24.10.2000 3 Ss OWi 968/00 - = BeckRS 2000, 30138862). Das gilt auch für Fälle, in denen von einem Polizeifahrzeug aus durch den Rück-spiegel ein unzulässig niedriger Abstand des nachfolgenden Fahrzeugs beobachtet und nach Anhalten jenes Fahrzeugs auf einer Standspur eine Rekonstruktion des Abstandes an Hand von Merkmalen vorgenommen wird, die die Polizeibeamten sich bei der Beobachtung durch den Rückspiegel eingeprägt hatten (OLG Düsseldorf a.a.O.; Hans. OLG Bremen a.a.O.). Diese Messmethode ist anfällig für Fehlerquellen. Vor allem Änderungen der Augenposition durch Bewegungen, insbesondere Neigungen des Kopfes, wirken sich unterschiedlich auf das Ge-sichtsfeld aus (OLG Düsseldorf a.a.O.; Hans. OLG Bremen a.a.O.). Den Fehlerquellen ist al-lerdings nicht durch ein allgemeines Verwertungsverbot für auf diese Weise gewonnene Bewei-se zu begegnen, sondern mit der üblichen revisionsrechtlichen Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung.
Inwieweit die Feststellung zu geringen Abstands durch Vorfahren möglich ist (Beobachten durch die Heckscheibe des Innenspiegels) ist Tatfrage. Wegen der erheblichen Fehlerquellensind Mindestvoraussetzungen einzuhalten: ununterbrochene Spiegelbeobachtung durch erfahrenen (geschulten) Polizeibeamten und genaue Messung von Zeit und Strecke (Hent-schel/König/Dauer, 43. Aufl., Straßenverkehrsrecht, § 4 StVO Rn. 29). Da sich nach einhelliger Auffassung über eine nachträgliche Rekonstruktion nicht mit absoluter Genauigkeit der Abstand feststellen lässt, der während der Fahrt bestand, muss ein Sicherheitszuschlag auf den gemes-senen Abstand erfolgen, der über 33,3 % liegen muss (OLG Bremen a.a.O.; OLG Düsseldorf VRS 68, 229, 232; OLG Koblenz VRS 71, 66, 68: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrs-recht. aa0. § 4 StVO Rn. 29). Die insoweit erforderliche Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Ein-druck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bil-den. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatgericht Rechts-fehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdi-gung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Er-fahrungssätze verstößt. Liegen solche Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tat-gerichtliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näher liegend gewesen wäre (BGH NJW 2005, 2322, 2326; NStZ-RR 2013, 75, 77; NStZ-RR 2013, 89, 90; NStZ 2014, 507, 508 sowie Urteil vom 11.12.2014 3 StR 265/14 - = BeckRS 2015, 06664) Über die Verweisungsnorm des § 71 Abs. 1 OWiG gelten die vorgenannten Grundsätze ebenso im Bußgeldverfahren.
2. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist im Streitfall nicht widersprüchlich, unklar und ver-stößt auch nicht gegen Denkgesetze, d.h. gegen Gesetze der Logik. Der hier zugrunde gelegte Sicherheitszuschlag zu dem durch Rekonstruktion ermittelten Abstands (bei Nachstellung im ruhenden Verkehr) von 7,5 m beträgt 100%. Denn das Amtsgericht hat einen vom Betroffenen gehaltenen Abstand von 15 m angenommen bei einer zugrunde gelegten Geschwindigkeit von 104 km/h. Nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft weist die Beweiswürdigung des Amtsgerichts allerdings eine Lücke aus. In ihrer Stellungnahme vom 22.07.2015 führt sie dazu aus: Angesichts der Schwierigkeit, aus einem vorausfahrenden Fahrzeug heraus sichere Be-obachtungen und zuverlässige Schätzungen im rückwärtigen Verkehrsraum zu treffen, bedür-fen entsprechende Zeugenaussagen besonders kritischer Würdigung (OLG Hamm, Beschluss vom 24.10.2000 3 Ss OWi 968/00 - = BeckRS 2000, 30138862). Die Forderung, es müsse sich um geschulte und in der Anwendung des Abstandsmessverfahrens erfahrene Personen handeln (so OLG Hamm a.a.O.) wäre jedoch völlig überzogen, wenn damit gemeint sein sollte, dass die Polizeibeamten in der Abstandsmessung durch Vorausfahren geschult sein müssen, denn dabei handelt es sich um kein übliches Messverfahren, für das Schulungen stattfinden, sondern um die eher zufällige Feststellung eines Abstandsverstoßes, weil ein Drängler zu dicht auf ein ziviles Polizeifahrzeug auffährt, das er nicht als solches erkannt hat. Vielmehr ist ausrei-chend, dass ein in der Beobachtung von Verkehrsgeschehen erfahrener Polizeibeamter das nachfolgende Fahrzeug über eine längere Strecke ständig im Innenspiegel beobachtet (OLG Koblenz VRS 71, 66, 68; AG Lüdinghausen NZV 2009, 159, 160). Im Urteil des Amtsgerichts Bremerhaven finden sich keine Feststellungen dazu, über welche Erfahrungen die Polizeibeam-ten pp. und pp. zur Tatzeit verfügten. Auch wenn es schon allein aufgrund ihrer professionellen Vorgehensweise bei der Abstandsmessung naheliegt, dass sie nicht das erste Mal einen Ab-standsverstoß durch ein nachfolgendes Fahrzeug feststellten, muss das Urteil dazu Feststel-lungen enthalten und diese würdigen."
Dieser Auffassung tritt der Senat nach eigener Prüfung bei (vgl. auch AG Lüdinghausen, Urt. v. 25.08.2008 19 OWi 89 Js 780, 83/80, BeckRS 2008, 21543; OLG Hamm, Beschl. v. 24.10.2000 3 Ss OWi 968/00. BeckRS 2000, 30138862).
Hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs wird zur Vermeidung von Wiederholungen ebenfalls auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 22.07.2015 verwiesen.
3. Das angefochtene Urteil ist nach alledem mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG. § 353 StPO). Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Bremerhaven zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 3 OWiG, § 354 Abs. 2 StPO), wobei kein Anlass besteht, eine Zurückverweisung an einen anderen Richter des Amtsgerichts Bremerhaven auszusprechen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
Eine Kostenentscheidung konnte der Senat nicht treffen, weil der Erfolg des Rechtsmittels auf-grund der Zurückverweisung noch ungewiss ist. Die Entscheidung über die Kosten des Rechts-beschwerdeverfahrens war deshalb dem Amtsgericht zu übertragen (vgl. KK-StPO-Franke, StPO, 6. Auflage, 2008. § 464 Rn. 3).
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