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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Waffengleichheit, Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Braunschweig, Beschl. v. 18.05.2015 - 3 Qs 51/15

Leitsatz: Die Fähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, kann auch dann erheblich beeinträchtigt sein, wenn ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat und sich zum Beispiel die Mitangeklagten gegenseitig, belasten. Ihm ist dann nach § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen.


Landgericht Braunschweig
Geschäfts-Nr.:
3 Qs 51/15
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
wegen Körperverletzung
hat die 3. kleine Strafkammer des Landgerichts in Braunschweig am 18.05.2015 durch die unterzeichnenden Richter beschlossen:

Auf die Beschwerde des Angeklagten T. vom 15.04.2015 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Jugendrichter - Braunschweig vom 16.12.2014 (54 Ds 558 Js 19310/14) aufgehoben.

Dem Angeklagten T wird Herr Rechtsanwalt Jan Robert Funck, Braunschweig, als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die diesbezüglichen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:
Gegen den Angeklagten T sowie die Mitangeklagten H und S hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig am 13.10.2014 (558 Js 19310/14) Anklage wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Zeugen K, H, Ho und B vor dem Amtsgericht. Braunschweig - Jugendrichter - erhoben. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wirft den Angeklagten vor, am 15.12.2013 in Braunschweig nach einer zunächst verbalen Auseinandersetzung mit den Zeugen B und H in wechselnder Beteiligung auf die Geschädigten eingeschlagen und eingetreten zu haben, so dass diese nicht unerheblich insbesondere im Gesichtsbereich verletzt worden sind.

Das Amtsgericht Braunschweig hat mit Beschluss vom 13.03.2015 (54 Ds 558 Js 19310/14) die Anklage der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 13.10.2014 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Jugendrichter eröffnet. Den Antrag von Rechtsanwalt Funck vom 31.10.2014 auf Beiordnung als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 2 StPO für den Angeklagten T. hat das Amtsgericht Braunschweig mit Beschluss vom 16.12.2014 zurückgewiesen. Das Amtsgericht verneinte das Vorliegen der Voraussetzungen von § 140 Abs. 1 und 2 StPO. Insbesondere lassen weder die Schwere der Tat noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig erscheinen. Auch die Rechtsfolgenerwartung rechtfertigt keine Beiordnung. Den Antrag von Rechtsanwalt M auf Bestellung als notwendiger Verteidiger für den Angeklagten S. hat das Amtsgericht Braunschweig mit Beschluss vom 03.02.2015 ebenfalls zurückgewiesen.

Gegen den Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 16.12.2014 richtet sich die namens und in Vollmacht des Angeklagten T eingelegte Beschwerde des Rechtsanwalts Funck vom 15.04.2015.

II.
Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Amtsgericht Braunschweig die Beiordnung als Pflichtverteidiger abgelehnt.

Ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 9 StPO liegt zwar ersichtlich nicht vor. Allerdings ist dem Angeklagten gemäß § 68 Nr. 1 JGG in Verbindung mit 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger unter anderem auch dann beizuordnen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falles. Die Fähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, kann auch dann erheblich beeinträchtigt sein, wenn ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat und sich zum Beispiel die Mitangeklagten gegenseitig, belasten. Dahingehend bedarf es unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit einer jeweiligen, Einzelfallprüfung (vgl. Meyer- Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., 2015, § 140 Rn. 30,31; LG Verden, Beschluss vom 04.03.2014, 1 Qs 36/14). Vorliegend liegt den Anklagen der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen die Angeklagten T und S , welcher von Rechtsanwalt M verteidigt wird, derselbe tatsächliche Lebenssachverhalt zugrunde. Beide Angeklagten sollen insbesondere auf den Zeugen H. zeitgleich eingeschlagen haben. Aufgrund der räumlichen, zeitlichen und personellen Nähe der bei beiden angeklagten Tat besteht zumindest die nicht fernliegende Möglichkeit, dass der verteidigte Mitangeklagte S in einer gemeinsamen Hauptverhandlung den Tatvorwurf betreffend eine den Angeklagten T belastende Aussage machen könnte. Bislang haben die Angeklagten T und S keine Angaben zur Sache gemacht. Nicht unberücksichtigt bleiben kann auch, dass nach dem angeklagten Sachverhalt aufgrund der mehreren beteiligten Personen Änderungen des bisherigen Aussageverhaltens nicht nur der Mitangeklagten, sondern auch von Zeugen möglich erscheinen und gegebenenfalls für einzelne Handlungen Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen. Aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens heraus ist es daher erforderlich, dem Angeklagten T. einen Pflichtverteidiger zu bestellen, um seine Fähigkeit, sich zu verteidigen und auf eventuelle belastende Angaben insbesondere des Mitangeklagten S. angemessen reagieren zu können, sicherzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.


Einsender: RA J.R. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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