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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Auswahl, fiskalische Erwägungen

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.10.2014 - 1 Ws 162/14

Leitsatz: Der ortsferne Kanzleisitz des gewählten Verteidigers kann zwar einen Grund darstellen, die Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger abzulehnen. Im Bestellungsverfahren tritt der Gesichtspunkt der Ortsnähe im Rahmen der gebotenen Interessensabwägung aber grundsätzlich gegenüber dem besonderen Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu seinem Verteidiger zurück. Auch haben fiskalische Interessen an der Entstehung möglichst niedriger Verteidigerkosten (insbesondere Fahrtkostenersatz) angesichts der hohen Bedeutung des Rechts eines Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, zurückzutreten.


1 Ws 162/14 Brandenburgisches Oberlandesgericht
Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss
in der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger: Rechtsanwalt Dirk Bettinger, Philippstraße 27, 52349 Düren
wegen sexueller Nötigung; Vergewaltigung
hier: Pflichtverteidigerbestellung
hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch
die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richterin am Oberlandesgericht und die Richtern am Oberlandesgericht am 20. Oktober 2014 beschlossen:
1. Der Beschluss des Vorsitzenden der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 30. Juli 2014 wird aufgehoben.
2. Dem Angeschuldigten wird Rechtsanwalt Dirk Bettinger aus Düren als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Gründe
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin führte gegen den Beschwerdeführer zunächst zwei Ermittlungsverfahren und zwar zum einen zum Nachteil der Geschädigten pp. wegen des Verdachts der schweren sexuellen Nötigung (Tatzeit: 21. Juli 2011) und zum anderen wegen des Verdachtes der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der Geschädigten pp. (Tatzeit: 30. Oktober 2010). Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Neuruppin vom 23. August 2013 wurden beide Verfahren miteinander verbunden. Da die Staatsanwaltschaft die abschließende Sachbearbeitung bezüglich beider geschädigter Frauen insbesondere in Ansehung des fortgeschrittenen Alters der Geschädigten pp. als nicht sachgerecht beurteilte, trennte sie unter dem 28. April 2014 die Verfahren wieder und erhob gegen den Beschwerde-führer Anklage wegen schwerer sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung zum Nachteil der Geschädigten pp. zur großen Strafkammer beim Landgericht Neuruppin.

Bereits unter dem 5. November 2010 meldete sich Rechtsanwalt Bettinger mit Vollmacht vom 4. November 2010 für den Angeschuldigten zur Akte.

Unter dem 5. August 2011 bestellte das Amtsgericht Tiergarten Rechtsanwalt Bettinger auf Antrag des damaligen Beschuldigten zum Pflichtverteidiger im damals noch getrennt geführten Ermittlungsverfahren zum Nachteil der Geschädigten pp.

Nach Zustellung der Anklageschrift beantragte der Angeschuldigte mit Verteidigerschriftsatz vom 10. Juni 2014, ihm Rechtsanwalt Bettinger für das Strafverfahren als Pflichtverteidiger beizuordnen.

Diesen Antrag lehnte der Vorsitzende der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin mit Beschluss vom 30. Juli 2014 unter Verweis auf die große Entfernung des Kanzleisitzes des Verteidigers zum Wohnort des Angeschuldigten (614 km) und zum Gerichtsstandort ab, weil „eine sachdienliche Verteidigung ob der Entfernung nicht möglich sein werde und die Bestellung aus Kostengründen unverhältnismäßig erscheine.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeschuldigten vom 5. August 2014, mit der er auf das besondere Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Verteidiger hinweist. Der Verteidiger sei seit vielen Jahren strafrechtlich für ihn tätig, das Mandatsverhältnis reiche nahezu mehr als zehn Jahre zurück.

In der heutigen Zeit der modernen Kommunikationsmöglichkeiten sei die Vorbereitung der Hauptverhandlung auch möglich, ohne dass Verteidiger und Mandant sich persönlich gegenüber sitzen würden.

Der Kammervorsitzende bat sodann mit Verfügung vom 13. August 2014 den Verteidiger mitzuteilen, in welchen weiteren Strafverfahren er für den Angeschuldigten tätig gewesen sei und über welche modernen Kommunikationsmöglichkeiten der Angeschuldigte verfüge.

Da diese Verfügung unbeantwortet blieb, half der Kammervorsitzende der Beschwerde nicht ab und leitete die Akten dem Senat zur Entscheidung weiter.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 18. September 2014 beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

In seinem Erwiderungsschreiben vom 8. Oktober 2014 verweist der Verteidiger u.a. auch auf zivilrechtliche Beauftragungen und auf in der langen Zeit des Ermittlungsverfahrens stattgefundene Kommunikation zwischen ihm und dem Angeschuldigten.

II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.

a) Gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO bestellt der Vorsitzende den vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Zwar gibt die Vorschrift des § 142 Abs. 1 StPO dem Beschuldigten keinen Rechtsanspruch auf die Bestellung einer bestimmten (von ihm ausgewählten) Person als Verteidiger. Die Vorschrift soll gewährleisten, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz genannten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und zugleich ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gesichert ist (vgl. OLG Düsseldorf StV 1984, 372). Dabei liegt die Auswahl des Verteidigers grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. Allerdings ist dieses Ermessen unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze (vgl. BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 239; BVerfG NJW 2001 3695, 3696) dahin eingeschränkt, dass bei der Auswahl des Verteidigers auch dem Interesse des Beschuldigten, von einem Anwalt seines Vertrauens verteidigt zu werden, ausreichend Rechnung getragen werden muss. Grundsätzlich soll der Beschuldigte mit der Beiordnung des Verteidigers seines Vertrauens demjenigen gleichgestellt werden, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger gewählt hat (vgl. BVerfGE 9, 36, 38). Deshalb soll der Beschuldigte nach § 142 Abs. 1 StPO Gelegenheit erhalten, einen Anwalt zu benennen. Diesen muss das Gericht beiordnen, wenn nicht gewichtige Gründe entgegenstehen (§ 142 Abs. 1 Satz 2 StPO). Der ortsferne Kanzleisitz des gewählten Verteidigers kann zwar einen Grund darstellen, die Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts abzulehnen. Im Bestellungsverfahren tritt der Gesichtspunkt der Ortsnähe im Rahmen der gebotenen Interessensabwägung aber grundsätzlich gegenüber dem besonderen Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu seinem Verteidiger zurück (vgl. BVerfG NJW 2001, 3695, 3696, 3697; BGHSt 43, 153, 157; OLG Stuttgart StraFo 2006, 112, 113). Der Umstand der Ortsferne an sich ist deshalb nicht ausreichend. Er steht nur dann der Bestellung entgegen, wenn dadurch eine sachdienliche Verteidigung des Beschuldigten und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet werden. Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich. Der Verteidiger ist trotz der Ortsferne seit vielen Jahren für den Ange-schuldigten tätig. Offensichtlich hat diese bislang nicht zu Schwierigkeiten bei der Vertretung geführt. Der Verteidiger hat in seinem Erwiderungsschriftsatz vom 8. Oktober 2014 ausreichend dargetan, dass trotz der erhebliche Entfernung zwischen seinem Kanzleisitz und dem Wohnort des Angeschuldigten in den vergangenen Jahren ausreichende Kommunikation zwischen ihnen stattgefunden habe. Negative Auswirkungen auf die Effektivität der Verteidigung des Angeschuldigten bzw. auf die ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens sind hiernach nicht zu befürchten.

Auch haben fiskalische Interessen an der Entstehung möglichst niedriger Verteidigerkosten (insbesondere Fahrtkostenersatz) angesichts der hohen Bedeutung des Rechts eines Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, zurückzutreten.

An einem besonderes Vertrauensverhältnis zwischen dem Angeschuldigten und Rechtsanwalt Bettinger bestehen vorliegend keine Zweifel.

Der Verteidiger wurde im vorliegenden Verfahren vom Angeschuldigten bereits im Jahre 2010, also vor 4 Jahren bevollmächtigt. Zugleich nahm er, wie sich aus der Verfahrensakte ergibt, die Interessen des Angeschuldigten im Wohnungsverweisungsverfahren gemäß § 16a BbgPolG wahr.

Auch wurde der Rechtsanwalt Bettinger bereits im Ermittlungsverfahren zum Nachteil der Geschädigten pp. am 5. August 2011 vom Amtsgericht Tiergarten zum Pflichtverteidiger bestellt, ohne dass die bereits damals bestehende Ortsferne von Bedeutung gewesen wäre.

Unter diesen Umständen erweist sich die getroffene Entscheidung über die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung als ermessensfehlerhaft.

b) Der Strafkammervorsitzende hätte nach § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO Rechtsanwalt Bettinger antragsgemäß zum Pflichtverteidiger des Angeschuldigten bestellen müssen. Da die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO erfüllt sind und sich das Auswahlermessen des Strafkammervorsitzenden — wie dargelegt — auf Rechtsanwalt Bettinger beschränkt, ordnet der Senat diesen dem Angeschuldigten als Pflichtverteidiger bei. Die Befugnis des Beschwerdegerichts hierzu ergibt sich aus § 309 Abs. 2 StPO, weil eine andere Entscheidung durch den Vorsitzenden der Strafkammer nach Lage des Falles nicht in Betracht kommt.
3) Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil es sich vorliegend um ein unselbständiges Zwischenverfahren handelt.

Einsender: RA D. Bettinger, Düren

Anmerkung:


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