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Entscheidungen

StPO

Zwischenverfahren, Nichteröffnung, in dubio pro reo

Gericht / Entscheidungsdatum: AG Backnang, Beschl. v. 23.07.2014 - 2 Ls 113 Js 112185/12

Leitsatz: Bei dem im Rahmen der Entscheidung nach § 203 StPO zu fällenden Wahrscheinlichkeitsurteil ist für die Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo noch kein Raum. Je-doch kann der hinreichende Tatverdacht mit der Begründung verneint werden, dass nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich das Gericht nach diesem Grundsatz freisprechen wird.


2 Ls 113 Js 112185/12
Amtsgericht Backnang

Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
wegen Raubes

hat das Amtsgericht Backnang durch Richter am Amtsgericht am 23.07.2014 beschlossen:

1. Die Eröffnung des Hauptverfahrens wird abgelehnt.

2. Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.
Dem Angeschuldigten wird zur Last gelegt, er habe am 13.12.2012 gegen 16.02 Uhr vor der Filiale der Firma K. in B. den zu 80% schwerbehinderten Zeugen R. am Kragen seiner Jacke gepackt und aus deren Innentasche eine halbleere Hardbox mit Zigaretten im Wert von insgesamt 7,-- € entnommen, auf die er, wie er gewusst habe, keinen Anspruch hatte. Hierbei habe der Angeschuldigte ausgenutzt, dass der Geschädigte aufgrund vorangegangener Treffen Angst vor körperlichen Übergriffen des Angeschuldigten gehabt habe. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb wegen Raubes Anklage erhoben. Der bis zur Anklageerhebung lediglich 72 Seiten umfassenden Ermittlungsakte ließ sich entnehmen, dass bei dem Zeugen R. eine Intelligenzminderung sowie eine Verhaltensstörung vorliegt und er umfassend unter Betreuung steht. Ebenso wurde, wenn auch ohne Konkretisierung, erwähnt, dass sich der Zeuge bereits seit früher Kindheit wiederholt in geschlossenen Einrichtungen befand. Darüber hinaus legte der am vermeintlichen Tattag im Einsatz befindliche Polizeibeamte PK W. in seinem Bericht zur Anzeigenaufnahme dar, dass der Zeuge R. den Sachverhalt nicht schlüssig schildern konnte, sondern nur sprunghaft und nicht chronologisch (Bl. 18 d.A.); dies steht im Widerspruch zu der Einschätzung im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, wonach der Zeuge R. den Vorfall in sich schlüssig und nachvollziehbar dargelegt habe (Bl. 75 d.A.).

Trotz der von PK W. dargestellten Schwierigkeiten des Zeugen R. bei der Sachverhalts-schilderung und ungeachtet der auf eine erhebliche psychische Erkrankung hindeuten-den Anhaltspunkte erfolgte im Ermittlungsverfahren keine ausführliche Überprüfung sei-ner Glaubwürdigkeit; es findet sich lediglich ein Vermerk, wonach die sachbearbeitende Kriminalbeamtin telefonisch mitgeteilt habe, der Zeuge sei glaubwürdig (Bl. 1 d.A.). Wo-rauf genau diese Einschätzung gestützt wird, lässt sich dem Vermerk nicht entnehmen.

Aufgrund der offenen Punkte wurden auf eine entsprechende Bitte des Gerichts Nach-ermittlungen veranlasst. Diese förderten zutage, dass der Zeuge R. tatsächlich in massi-ver Weise gesundheitlich beeinträchtigt ist; er wurde wiederholt aufgrund gerichtlicher Beschlüsse geschlossen untergebracht. Zudem erfolgten psychiatrische Begutachtun-gen. Die Unterbringungen wurden mit psychischen Erkrankungen begründet, es bestehe ein Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivitätssyndrom mit Intelligenzminderung. Zudem leidet der Zeuge am Tourette-Syndrom. Es sei eine erhebliche psychische Störung im Rahmen eines hyperkinetischen Syndroms im Sozialverhalten ebenso vorhanden wie eine mittelgradige Intelligenzminderung. Es bestehe die Gefahr, dass sich der Betroffene erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Auf teils fremdaggressive Verhaltensauf-fälligkeiten könne nur mit ständiger Überwachung, Beschäftigung und Betreuung reagiert werden.

Aufgrund der offenkundigen und schwerwiegenden psychischen Erkrankungen hat das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Glaubhaftigkeit der Anga-ben des Zeugen R. angeordnet. Dabei wurde nicht verkannt, dass die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage grundsätzlich Sache des Tatrichters ist, der in aller Regel nicht gehalten ist, einen Sachverständigen hinzuzuziehen. Es ist jedoch seit lan-gem anerkannt, dass die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten sein kann, wenn die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage wegen der Person des Zeugen besonders schwierig ist. Dies ist insbesondere der Fall bei möglicherweise geistig er-krankten oder behinderten, sich in psychiatrischer Behandlung befindenden, wahrneh-mungsgestörten oder sonst in ihrer Zeugentauglichkeit beeinträchtigten Personen (Be-cker in Löwe/ Rosenberg, StPO; § 244, Rn. 84 m.w.N.). Befindet sich ein Zeuge längere Zeit in ambulanter und stationärer psychiatrischer Behandlung, muss dies das Tatgericht dazu veranlassen, sich sachverständiger Hilfe zu bedienen (BGH StV 1993, 567). Diese Voraussetzungen sind bei dem Zeugen R., bei dem es sich um den einzigen unmittelba-ren Tatzeugen handelt, gegeben.

Hiervon ausgehend hat das Gericht die Sachverständige Dr. C mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Mit Schreiben vom 29.06.2014 teilte die Sachverständige mit, dass die Angaben des Zeugen R. von einer erheblichen Detailarmut geprägt sind. Auf-grund dieser Detailarmut seien die Grundvoraussetzungen zur Anwendung einer Real-kennzeichenanalyse nicht gegeben, weshalb aus aussagepsychologischer Sicht zu dem strittigen Sachverhalt keine Aussage getroffen werden kann.

II.

Die Eröffnung des Hauptverfahrens war abzulehnen. Das Gericht beschließt gem. § 203 StPO die Eröffnung des Hauptverfahrens dann, wenn nach den Ergebnissen des vorbe-reitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Hinreichender Tatverdacht besteht bei vorläufiger Tatbewertung in der Wahrscheinlich-keit der späteren Verurteilung. Es besteht hierbei ein gewisser Beurteilungsspielraum, eine hohe Wahrscheinlichkeit wie beim dringenden Tatverdacht im Sinne der §§ 112 StPO wird nicht vorausgesetzt (Meyer-Goßner, StPO, § 203, Rn. 2). Nach der Recht-sprechung des OLG Stuttgart ist dies dahin zu präzisieren, dass entweder die Verurtei-lung überwiegend wahrscheinlich erscheinen muss oder ein Zweifelsfall mit ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung vorliegt, zu dessen Klärung die besonderen Erkenntnismittel der Hauptverhandlung notwendig sind (OLG Stuttgart, Justiz 2011, 2018). Dies ist nach der Rechtsprechung des OLG Stuttgart ins-besondere der Fall, wenn es auf den persönlichen Eindruck des erkennenden Gerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit bei sich widersprechenden Aussagen entscheidend ankommt.

Diese Rechtsprechung des Oberlandesgerichts hat das Gericht seiner Entscheidung zu-grunde gelegt. Ebenfalls hat das Gericht berücksichtigt, dass bei dem im Rahmen der Entscheidung nach § 203 StPO zu fällenden Wahrscheinlichkeitsurteil für in dubio pro reo noch kein Raum ist (Meyer-Goßner, StPO, a.a.O.). Jedoch kann der hinreichende Tatverdacht mit der Begründung verneint werden, dass nach Aktenlage bei den gegebe-nen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich das Gericht nach diesem Grundsatz freisprechen wird (Meyer-Goßner, StPO, a.a.O. n.w.N). Zudem hat das Gericht bei der Prognoseentscheidung einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum (OLG Nürnberg NJW 2010, 3793). Liegt zum eigentlichen Tatgeschehen -wie hier- eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor, so liegt es im vertretbaren Entscheidungskorridor des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts, wenn es schon aufgrund der Ak-tenlage einen Belastungszeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung unterzieht und es nicht auf die Hauptverhandlung ankommen lassen will (OLG Nürnberg a.a.O.). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass der Angeschuldigte wenig Verteidigungs-möglichkeiten hat. Auch die für ihn streitende Unschuldsvermutung darf nicht außen vor gelassen werden.

Hiervon ausgehend besteht vorliegend kein hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO; vielmehr ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Ange-klagte im Falle der Durchführung einer Hauptverhandlung letztlich freigesprochen werden würde. Auf die Angaben des Zeugen R. kann eine Verurteilung nicht gestützt werden, weitere Tatzeugen stehen nicht zur Verfügung. So hat die Zeugin J. lediglich bekundet, der Zeuge R. habe ihr erzählt, dass ihm Zigaretten geklaut wurden, den eigentlichen Vorgang hat sie nicht beobachten können. Sonstige Zeugen, auf deren Angaben eine Verurteilung gestützt werden könnte, sind nicht vorhanden.

Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugen ist im Strafverfahren von der soge-nannten Null-Hypothese des Bundesgerichtshofs auszugehen. Hiernach gilt jede Aussa-ge solange als unwahr, bis sich diese Vermutung angesichts der Zahl und der Qualität von Realitätskriterien nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Es bedarf eindeutiger und quali-tativ belastbarer Realitätskriterien. An solchen Kennzeichen fehlt es hier. Dem Gericht alleine fehlt es aufgrund der Erkrankung des Zeugen R. an der erforderlichen Sachkun-de, und die hinzugezogene Sachverständige -an deren Sachkunde keinerlei Zweifel be-steht- vermochte in Anbetracht der Detailarmut der Angaben des Zeugen R. eine Glaub-würdigkeitsprüfung nicht vorzunehmen. Bereits dies spricht dafür, dass sich die soge-nannte Null-Hypothese nicht wird widerlegen lassen. Nachdem es sich bei der Erkran-kung des Zeugen R. auch nicht um einen nur vorübergehenden, sondern um einen dau-erhaften Zustand handelt, ist auch nicht davon auszugehen, dass sich die Aussagetüch-tigkeit bis zur etwaigen Hauptverhandlung wieder verbessern wird.

Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, dass irgendwelche Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sich in der Hauptverhandlung belastbare Ergebnisse erzielen lassen würden. Die Sachverständige hat das Wortprotokoll ihrer Unterredung mit dem Zeugen R. vorge-legt. Aus diesem geht nicht hervor, dass die Sachverständige irgendwelchen Ansätzen nicht nachgegangen wäre, die geeignet gewesen wären, eine Begutachtung doch noch zu ermöglichen. Es ist mithin nicht davon auszugehen, dass die bestreitenden Angaben des Angeschuldigten sich im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens zweifelsfrei zur Überzeugung des Gerichts widerlegen ließen.

Zudem haben die durchgeführten Nachermittlungen weitere Anhaltspunkte hervorge-bracht, aus denen sich Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen R. ergeben. So hat der Zeuge O. erklärt, der Zeuge habe, als er in einer von dem Zeugen geleiteten Einrich-tung untergebracht war, "gerne gepetzt". Dabei sei es darum gegangen, dass ein Be-wohner dem anderen Cola oder Schokolade weggenommen hat. Weiter hat der Zeuge O. angegeben, er könne nicht ausschließen, dass der Zeuge R. auch Sachen erfunden habe. Nicht übersehen wurde, dass der Zeuge O. dies jedoch für einen früheren Vorfall mit dem Angeschuldigten nahezu ausgeschlossen hat. Dies allein führt jedoch nicht zum hinreichenden Tatverdacht. So hatte der Zeuge P., dessen Angaben glaubhaft erschei-nen, angegeben, dem Zeugen R. fehle es aufgrund seiner psychischen Erkrankung an Distanzgefühl. Er provoziere ganz bewusst andere Menschen. Auch habe er wiederholt Mitbewohner bestohlen. Auch habe er dem Zeugen P. gegenüber einmal erwähnt, über den Angeschuldigten falsche Angaben in Umlauf gebracht zu haben. Er habe behauptet, dieser habe ihn geschlagen, was tatsächlich jedoch nicht der Fall gewesen sei. Er habe sich mit dieser Behauptung nur einen Spaß erlaubt. Weiter hat der Zeuge angegeben, dass der Zeuge R. Bewohner und Personal bewusst gegeneinander ausgespielt hat. Er habe ihm immer erzählt, wer was gemacht habe und was andere Bewohner gemacht haben sollen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Zeuge R. an schweren psychischen Er-krankungen leidet und seine Angaben derart detailarm sind, dass weder dem Gericht noch der Sachverständigen eine Glaubhaftigkeitsprüfung möglich ist. Darüber hinaus sind greifbare Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Zeuge R. in der Vergangenheit wiederholt unwahre Behauptungen über Dritte in die Welt gesetzt hat. Darüber hinaus steht im Raum, dass er auch über den hier Angeschuldigten Unwahres behauptet hat. Bereits dies führt -losgelöst von der Erkrankung- zu erheblichen Zweifeln an der Glaub-haftigkeit. Diese hätten sich womöglich in der Hauptverhandlung widerlegen lassen, dies jedoch nur, wenn der Zeuge R. gesund wäre. Dies ist ersichtlich nicht der Fall. Es wird sich die Null-Hypothese des BGH damit nicht widerlegen lassen, so dass die Eröffnung es Hauptverfahrens abgelehnt werden musste.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1StPO.





Richter am Amtsgericht




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