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Entscheidungen

Haftfragen

Untersuchungshaft, Fluchtgefahr, Nettostraferwartung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 03.01.2014 - 1 Ws 206/13

Leitsatz: Bei der Frage der für die Beurteilung von Fluchtgefahr i.S. des § 112 StPO bedeutsamen Frage der Straferwartung kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an; zu berücksichtigen ist daher, ob Untersuchungshaft angerechnet wird und ob der Angeklagte mit einer Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB rechnen kann.


In pp.
Der angefochtene Beschluss sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16.01.2007 in der Fassung des Beschlusses der 22. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Frankfurt am Main vom 12.07.2012 werden aufgehoben.
Die zulässige Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls.
Die Angeklagte ist der ihr im Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16.01.2007 in der Fassung des Beschlusses der 22. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Frankfurt am Main vom 12.07.2012 nach weiterer Maßgabe des Urteils vom 12.11.2013 zur Last gelegten Straftaten der Beihilfe zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, dem versuchten Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und der versuchten schweren Brandstiftung dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus dem Urteil vom 12.11.2013. Denn nach Erlass eines nichtrechtskräftigen Urteils ist für die Annahme des dringenden Tatverdachts in aller Regel auf die Würdigung des Tatgerichts zurückzugreifen (vgl. Meyer-Goßner, 56. Aufl., StPO, § 112 Rdnr. 7; Karlsruher Kommentar, 7. Aufl., StPO, § 112 Rdnr. 7a; Löwe-Rosenberg-Hilger, 26. Aufl., StPO, § 112 Rdnr. 20; Senatsbeschl. v. 26.04.2013, 1 Ws 73/13). Das Ergebnis der Beweisaufnahme der Hauptverhandlung, das im Urteil seinen Niederschlag gefunden hat, kann das Beschwerdegericht grundsätzlich nicht anders nachvollziehen, als das Tatgericht es vermittelt (st. Rechtspr. d. Senats, vgl. z. B. Senat a. a. O. sowie Beschl. v. 07.01.2013, 1 Ws 137/12 m. w. N.). Vorliegend haben die Angeklagte und die Nebenklage gegen das Urteil zwar Revision eingelegt. Das Beschwerdegericht ist grundsätzlich auch nicht an einer vorausschauenden Beurteilung eines Rechtsmittels gehindert. Das Beschwerdegericht kann aber in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht nur eingreifen, wenn die angefochtene Haftentscheidung grob fehlerhaft erscheint oder deren Gründe in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar erscheinen (vgl. BGH Strafverteidiger 1991, 525; Senatsbeschl. v. 26.04.2013, 1 Ws 73/13). Für eine solche der Angeklagten günstige Prognose auf das Endergebnis ihrer Revision fehlen aber hinreichende Anhaltspunkte.
Indes besteht kein Haftgrund mehr:
Die Angeklagte ist vom Vorwurf des tateinheitlichen Mordes in vier Fällen - wobei es in einem Fall beim Versuch blieb - in weiterer Tateinheit mit Geiselnahme (Fall Ziffer 1. der Anklageschrift vom 24.10.2011) freigesprochen worden. Damit besteht kein dringender Tatverdacht hinsichtlich einer Straftat wider das Leben mehr, so dass der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO weggefallen ist.
Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, auf welchen die Strafkammer die Aufrechterhaltung des Haftbefehls stützt, liegt nicht mehr vor. Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (vgl. Meyer-Goßner a. a. O., § 112 Rdnr. 17). Die nichtrechtskräftige Verurteilung der Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten bietet aber unter Anrechnung der bisher - vom 14.09.2011 bis zum 12.11.2013 - erlittenen Untersuchungshaft von ca. 26 Monaten sowie der nach dem Urteil vom 12.11.2013 anzurechnenden Auslieferungshaftzeiten - vom 16.01.2000 bis zum 22.03.2000 und vom 30.10.2007 bis zum 28.11.2007 - von insgesamt ca. 3 Monaten keinen erheblichen Anreiz mehr, sich dem weiteren Fortgang des Strafverfahrens einschließlich der Strafvollstreckung nicht zur Verfügung zu halten. Bei der Frage der Straferwartung kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an; zu berücksichtigen ist daher, dass die Untersuchungshaft angerechnet wird und ob die Angeklagte mit einer Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB rechnen kann (vgl. Meyer-Goßner a. a. O. Rdnr. 23 m. w. N.). Maßgeblich für die Bewertung des Fluchtanreizes ist damit die Netto-Straferwartung. Die Angeklagte hat aber vorliegend keine weitere Strafvollstreckung mehr zu erwarten. Aufgrund der bisher erlittenen Untersuchungs- und Auslieferungshaft, welche anzurechnen sind hat die Angeklagte bereits ca. 2 Jahre und 5 Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe verbüßt, so dass lediglich noch ca. 1 Jahr und 1 Monat der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe offen stehen. Diese sind nach derzeitigem Sachstand aber bei der Nettostraferwartung nicht zu berücksichtigen, da die Angeklagte hiernach mit einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB rechnen kann. Der hiermit maßgebliche 2/3-Zeitpunkt - welcher bei einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten nach einer Verbüßung von 2 Jahren und 4 Monaten erreicht ist - bezogen auf die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe ist aber bereits um einen Monat überschritten. Es ist derzeit auch nicht ersichtlich, dass die zwischenzeitlich fast 80 Jahre alte Angeklagte - hinsichtlich derer bei der Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB auch zu berücksichtigen sein wird, dass die letzte ihr vorgeworfene Tat vom ...19... (Tat zu Ziffer 4. der Anklageschrift vom 24.10.2011) bereits über 35 Jahre zurückliegt - nicht mit einer Reststrafenaussetzung rechnen könnte. Auch die in der Anklageschrift aufgeführte Verurteilung in Land1 im Jahre 19... wegen des Besitzes von Kriegswaffen und Sprengstoff (Tatzeit August 197...) rechtfertigt insoweit keine maßgeblich abweichende Bewertung. In Deutschland ist die Angeklagte nicht vorbestraft.
Auch die Revisionseinlegung durch die Nebenklage rechtfertigt keine abweichende Bewertung. Auch für eine der Angeklagten ungünstige Prognose auf das Endergebnis der Revision der Nebenklage fehlen hinreichende Anhaltspunkte.
Auch aus anderen Umständen folgt keine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Angeklagte sich dem weiteren Verfahren nicht zur Verfügung halten werde. Zwar hat auch der Senat in der Vergangenheit die angenommene Fluchtgefahr damit begründet, dass die Angeklagte mit ihrem - ehemals mitangeklagten - Lebensgefährten die Bundesrepublik Deutschland 19... fluchtartig verlassen und bis zu ihrer Festnahme 20... in Land2 unter einer falschen Identität gelebt hat. Diese Flucht aus Deutschland stand aber gerade im Zusammenhang mit einer befürchteten Strafverfolgung und damit auch der aus den ihr vorgeworfenen Taten drohenden Straferwartung. Da diese aber nunmehr keinen maßgeblichen Fluchtanreiz mehr bietet, verliert auch der Umstand einer bereits einmal angetretenen Flucht an Bedeutung.
Hierbei weist der Senat darauf hin, dass bei der derzeitigen Sachlage der Angeklagten ein Untertauchen zudem eher schädlich sein dürfte. Nach obigen Ausführungen ist derzeit nicht ersichtlich, dass die Angeklagte nicht mit einer positiven Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB rechnen könnte. Tauchte sie aber unter, müsste sie damit rechnen, dass dies insoweit eine abweichende Bewertung zur Folge hat. In diesem Falle hätte ein Untertauchen aber zur Folge, dass die Angeklagte damit rechnen müsste, dass der verbleibende Strafrest noch zu verbüßen wäre und ggf. ein Vollstreckungshaftbefehl nach § 457 Abs. 2 StPO sie zu einem erneuten dauerhaften Abtauchen in die Illegalität zwänge.
Zuletzt weist der Senat darauf hin, dass die in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 05.12.2013 zitierte Entscheidung des Senats vom 09.08.2006 - 1 Ws 83/06 - der hiesigen Wertung nicht entgegensteht. Diese betrifft bereits eine maßgeblich abweichende Fallgestaltung, als im dort entschiedenen Fall angesichts der konkreten Gesamtumstände eine Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB gerade nicht in Betracht kam. Im Übrigen wäre im dortigen Verfahren der 2/3-Zeitpunkt ohnehin erst ca. 16 Monate nach dem Entscheidungszeitpunkt erreicht worden, so dass insgesamt in jedem Fall noch eine erhebliche, einen Fluchtanreiz begründende Verbüßungsdauer offen stand. Zutreffend ist zwar, dass - wie in der zitierten Entscheidung ausgeführt - im Falle des Vorliegens einer nicht rechtskräftigen Entscheidung bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Untersuchungshaft grundsätzlich auf die Höhe der verhängten Strafe abzustellen ist, wobei anerkannt ist, dass die Verhältnismäßigkeit grundsätzlich dann noch gewahrt ist, wenn die erlittene Untersuchungshaft die Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe erreicht, jedoch nicht überschreitet. Auch hält der Senat daran fest, dass es keinen Automatismus gibt, wonach im Zeitpunkt von 2/3 einer nicht rechtskräftig verhängten bzw. erwarteten Strafe ein Haftbefehl unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit aufzuheben wäre. Dies steht hier aber nicht in Frage, da die Prüfung des Vorliegens eines Haftgrundes vorgreiflich ist und hierbei entsprechend obiger einzelfallrelevanter Ausführungen maßgebliches Kriterium die Netto-Straferwartung nach o. a. Grundsätzen ist.

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