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Gericht / Entscheidungsdatum: AG Backnang, Verf. v. 20.11.2013 - 2 Ds 93 Js 42049/13
Leitsatz: Mit der Beurteilung eines Sachverständigengutachtens ist der unverteidigte Ange-klagte regelmäßig überfordert, so dass ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist. Auch die erforderliche Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne der §§ 20, 21 StGB macht die Bestellung eines Verteidigers erforderlich.
Dem Angeklagten wird gemäß § 140 Abs. 2 StPO Rechtsanwalt K. als Pflichtverteidiger bestellt.
Gründe
1. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, er habe am 17.03.2013 gegen 22:00 Uhr im Bereich des Rathauses in der H.-Straße in M. nach einer zunächst verbalen Ausei-nandersetzung den Zeugen F. mit Pfefferspray angegriffen, wodurch der Zeuge eine erhebliche Augenreizung davongetragen habe. Mit Schreiben vom 22.10.2013 bean-tragte der Angeklagte die Beiordnung seines Verteidigers, Rechtsanwalt K., als Pflichtverteidiger. Er sei zum einen aus wirtschaftlichen, zum anderen aus gesund-heitlichen Gründen nicht in der Lage, die Kosten der Verteidigung zu tragen bzw. sich in ausreichendem Maße selbst zu verteidigen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wurde zu dem Beiordnungsantrag gehört. Sie ist dem Antrag entgegen getreten, da Beiordnungsgründe weder vorgetragen noch ersichtlich seien.
2. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt K. zum Pflichtverteidiger zu bestellen. Zwar ha-ben wirtschaftliche Aspekte außer Betracht zu bleiben, gleichwohl ist vorliegend ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, da der Angeklagte sich nicht wird selbst verteidigen können, § 140 Abs.2 Satz 1 StPO. Dem Beiordnungsantrag beigefügt war ein nervenärztlicher Bericht, aus dem hervorgeht, dass sich der Angeklagte be-reits seit dem Jahr 2003 in ambulanter nervenärztlicher Behandlung befindet. Es be-stehe u.a. eine therapieresistente Epilepsie mit vorwiegend komplex fokalen Anfällen, bei denen der Patient nicht ansprechbar sei und seine Verhaltensweise nicht willent-lich steuern könne. Beim Angeklagten komme es gehäuft zu solchen Anfällen. Wie-derholt habe der Angeklagte sich bei derartigen Anfällen selbst verletzt, aus nerven-ärztlicher Sicht sei es jedoch durchaus auch möglich, dass es in einem solchen Fall zu Fremdgefährdung kommen kann. Eine Steuerung seines Verhaltens sei dem An-geklagten dann nicht möglich, und zwar für mehrere Minuten. Auch bestehe meist eine retrograde Amnesie. Aus nervenärztlicher Sicht bestehe deshalb zumindest die Möglichkeit, dass es bei dem verfahrensgegenständlichen Vorfall zu einer Ein-schränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten gekommen ist.
Im weiteren Verfahren wird deshalb insbesondere zu prüfen sein, ob die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Grade der Erheblichkeit eingeschränkt war, was ohne Hinzuziehung sachverständigen Rats nicht möglich sein wird. Mit der Beurteilung eines Sachverständigengutachtens ist der unverteidigte Angeklagte je-doch regelmäßig überfordert, so dass ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist (vgl. Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 6. Auflage 2013, Rn. 2203). Auch die erforderliche Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne der §§ 20, 21 StGB macht die Bestellung eines Verteidigers erforderlich (Burhoff a.a.O., Rn. 2207).
Der Angeklagte hat in ausreichendem Maße zu den Beiordnungsgründen vorgetra-gen, wobei insbesondere der vorgelegten nervenärztlichen Bescheinigung maßgebli-che Bedeutung zukommt. Zwar lässt sich die Frage, ob die Erkrankung des Ange-klagten tatsächlich zur Anwendung der §§ 20, 21 StGB führt, anhand der Ausführun-gen in dem Attest nicht abschließend beantworten; dies ist jedoch auch nicht Vo-raussetzung für eine Beiordnung. Vielmehr genügt es insoweit, dass Umstände vor-getragen sind, die eine Überprüfung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gebieten, der Angeklagte muss zur Begründung eines Beiordnungsantrags keine Ausführungen machen, die dem Umfang eines Sachverständigengutachtens nahekommen oder diesen gar erreichen. Auch ist nicht erforderlich, dass eine erhebliche Einschränkung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bereits hochgradig wahrscheinlich ist. Hiervon ausgehend reicht die Vorlage einer (fach-)ärztlichen Bescheinigung jedenfalls dann aus, wenn aus ihr - wie hier - das Krankheitsbild ersichtlich wird und darüber hinaus auch ausgeführt wird, dass die Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt sein könnte.
Anders könnte allenfalls dann entschieden werden, wenn konkrete Verdachtsmo-mente für die Annahme vorhanden wäre, die ärztliche Bescheinigung sei inhaltlich falsch und werde vom Angeklagten dafür eingesetzt, eine gesetzlich nicht vorgese-hene Pflichtverteidigerbestellung zu erlangen oder um sich im Falle der Verurteilung durch die Behauptung einer schweren Erkrankung nicht gerechtfertigte Strafmilde-rungen zu verschaffen. Derartige Anhaltspunkte sind vorliegend jedoch nicht ersicht-lich.
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