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Entscheidungen

StPO

Aufklärungspflicht, Aussagetüchtigkeit, Glaubwürdigkeit, Tourette-Syndrom, kindlicher Zeuge

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Urt. v. 16.05.2013 – (4) 161 Ss 52/13 (66/13)

Leitsatz: Allein das Vorliegen einer Ticstörung ("Tourette-Syndrom“) bietet – jedenfalls in der Ausprägung lediglich einfacher motorischer Tics – grundsätzlich keinen Anlass, an der Aussagetüchtigkeit und Glaubwürdigkeit betroffener kindlicher Zeugen zu zweifeln, da die Krankheit keine Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit zur Folge hat.


In der Strafsache gegen
xxx,
geboren am xxx,
wohnhaft in xxx,
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin aufgrund der Hauptverhandlung vom 16. Mai 2013, an der teilgenommen haben:

Richter am Kammergericht
als Vorsitzender,
Richter am Kammergericht,
Vorsitzender Richter am Landgericht
als beisitzende Richter,

Oberstaatsanwältin
als Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft Berlin,

Rechtsanwältin
als Verteidigerin,

Justizbeschäftigte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,



für R e c h t erkannt:

1. Auf die Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 5. Dezember 2012 im Rechtsfolgenaus-spruch – mit Ausnahme des Ausspruchs über die Einzelgeldstrafe zu Fall 1 (II. 2. d. der Urteilsgründe) – aufgehoben.

2. Im Übrigen werden die Revisionen mit der Maßgabe verworfen, dass der Schuldspruch unter Abänderung des angefochtenen Urteils dahingehend neu gefasst wird, dass die Angeklagte der vorsätzlichen Körperverletzung in zwei Fällen schuldig ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Ent-scheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.



G r ü n d e :

Das Amtsgericht Tiergarten – Jugendrichter - hat die Angeklagte mit Urteil vom 27. April 2012 wegen gefährlicher Körperverletzung „im minder schweren Fall“ und vor-sätzlicher Körperverletzung verwarnt und die Verhängung einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 40 Euro vorbehalten. Gegen dieses Urteil haben die An-geklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt (letztere auf den Rechtsfol-genausspruch beschränkt).

Das Landgericht Berlin – (kleine) Jugendkammer - hat durch das angefochtene Urteil die Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen und auf die Berufung der Angeklag-ten das jugendrichterliche Urteil dahingehend abgeändert, dass diese der gefährli-chen Körperverletzung und der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig ist, deshalb verwarnt wird und die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen zu je 10 Euro vorbehalten bleibt.

Mit ihrer gegen dieses Urteil fristgerecht eingelegten Revision rügt die Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer auf die Rechtsfolge beschränkten und allein auf die Sachrüge gestützten Revision die Verurteilung zu einer unbedingten Strafe.

Die Rechtsmittel führen zur Abänderung des Schuldspruches und zur teilweisen Auf-hebung des Strafausspruches; im Übrigen sind sie erfolglos.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Die unbestrafte Angeklagte ist gelernte Erzieherin und die Tante der geschädigten Kinder V. K. und M. K. Sie erklärte sich in einer familiären Notsituation trotz beengter eigener Wohnverhältnisse auf Bitten des Vaters der Kinder - ihres Bruders - dazu bereit, beide Kinder ab Anfang August 2008 bei sich aufzunehmen, um ihnen eine Heimunterbringung zu ersparen. M. K. litt damals bereits seit Jahren an sogenannten Tics, die sich im Grimassenziehen oder hektischen Kopfbewegungen äußerten. Da-bei handelt es sich um Symptome eines „Tourette-Syndroms“. Die Angeklagte ließ M. K. zwar nicht psychiatrisch untersuchen, kümmerte sich aber (erstmals) um eine regelmäßige ergotherapeutische Behandlung der Erkrankung. Nach Bekanntwerden der im hiesigen Strafverfahren gegen sie erhobenen Vorwürfe im April 2012 verlor die Angeklagte ihre Arbeit als Erzieherin und ist deshalb arbeitslos. Sie bezieht zur-zeit lediglich Krankengeld.

Fall 1:
An einem nicht näher bestimmbaren Tag zwischen Mitte September 2008 und Mitte Juli 2009 schnitt M. K. während einer Busfahrt Grimassen, worauf die Angeklagte von ihrer Tochter hingewiesen wurde. Die Angeklagte reagierte darauf wütend. Dies war Folge der Überlastung mit der Gesamtsituation. Zu Hause angekommen schob sie M. K. eine Cremedose in den Mund, um weitere Grimassen zu unterbinden. Dadurch riss die Lippe des Kindes auf und begann leicht zu bluten, was die Ange-klagte zumindest billigend in Kauf genommen hatte. Entweder sie selbst oder M. K. zog die Dose danach wieder zurück. Anschließend trat sie M. K. gegen ein Bein.

Fall 2:
An einem nicht näher bestimmbaren Tag zwischen Mitte September 2008 und Mitte Juli 2009 gab es zum Frühstück auch Tomaten. Da V. K. sich geweigert hatte, die Tomaten zu essen, schlug ihm die Angeklagte zur Strafe mit einem dünnen Holz-stock gegen Oberkörper und Schulter, wodurch V. K. Schmerzen erlitt.

II.

1. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist die Verfahrensrüge der Angeklagten, mit der sie allgemein die Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) bzw. die fehlerhafte Ablehnung eines (Hilfs-) Beweisantrages (§ 244 Abs. 3 und 4 StPO) rügt, nicht zulässig erhoben; jedenfalls aber ist sie unbegründet.

a) Die Rüge genügt nicht der in § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Form. Der Beschwerdeführer, der eine Verletzung des Verfahrensrechts geltend macht, muss die den Mangel begründenden Tatsachen so vollständig und genau angeben, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen (vgl. BVer-fGE 112, 185 = NJW 2005, 1999, 2001; BGH, Urteil vom 6. Februar 1980 - 2 StR 729/79 – [juris] = BGHSt 29, 203; Senat, Beschluss vom 20. November 2012 – [4] 121 Ss 245/12 [294/12]).

aa) Dem wird die vorliegende Revisionsbegründung nicht gerecht. Bereits der Inhalt des von der Verteidigung in der Berufungshauptverhandlung gestellten Antrages wird nicht in der gebotenen Klarheit und ersichtlich auch nicht vollständig mitgeteilt.

Die Revisionsbegründung hat diesbezüglich folgenden Wortlaut:

„Das Gericht hat seine Aufklärungspflicht dadurch verletzt, dass es einen Hilfsbe-weisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen zu Unrecht mit der Begründung zurückgewiesen hat, es besitze die erforderliche eigene Sachkunde.

a] Verfahrenstatsachen

Die Verteidigerin stellte in der Hauptverhandlung am Ende ihres Schlussvortrages nach dem Antrag auf Freisprechung folgenden Hilfsbeweisantrag:

Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht die Angeklagte nicht frei spricht,
wird beantragt, ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zur Glaub-haftigkeit der Angaben der zum Zeitpunkt der Tat kindlichen Zeugen V. K., geb. am , und M. K., geb. am , einzuholen.

Die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens war geboten, da die Per-sonen der Zeugen solche Besonderheiten aufwiesen, dass Zweifel daran aufkamen, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht.

Die besonderen Umstände manifestieren sich im vorliegenden Fall insbesondere da-ran, dass die Vorwürfe hier rund vier Jahre zurückliegen und die kindlichen Zeugen zu diesem Zeitpunkt ca. 10 bzw. 8 Jahre alt gewesen sind.

In solchen Fällen ist die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten, da es sich hier um die Angaben über ein Geschehen handelt, bei dem es aufgrund des kindli-chen Alters nicht allein auf die Frage der Glaubwürdigkeit zum Zeitpunkt der Ver-nehmung, sondern auch auf die Wahrnehmungsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen und die Zuverlässigkeit der Zeugen zum Zeitpunkt des Geschehens von Bedeutung sind (vgl. BGH NStZ 1990, 472 und BGH StV 1994, 173).

Es kommt also nicht allein auf die Beurteilung des Aussageverhaltens der Zeugen in der Hauptverhandlung an, sondern auch darauf, wie sich die genannten Fähigkeiten der kindlichen Zeugen zum Zeitpunkt der Tat gestaltet haben.

Hinzu kommt im vorliegenden Fall auch der Umstand, dass der damals 8-jährige Zeuge M. K. bereits damals an dem Torrettsyndrom (gemeint: Tourette-Syndrom, Anm. d. Senats) litt, welches auch mit psychischen Erkrankungen wie Angststörun-gen und Depressionen einhergehen kann. Die Verteidigung wies im Beweisantrag darauf hin, dass der Zeuge in (der) Berufungshauptverhandlung äußerte, dass er aufgrund seiner Erkrankungen Tabletten einnehme, was im Jahre 2008/2009 nicht der Fall gewesen ist.

Es ist nicht auszuschließen, dass die Krankheit die Wahrnehmungsfähigkeit oder das
Erinnerungsvermögen beeinträchtigen kann.“

Für das Revisionsgericht macht dieser Vortrag nicht deutlich, was bereits Gegen-stand des Antrages war und was nachträgliche Revisionsbegründung ist. Dies wäre jedoch schon deshalb erforderlich gewesen, weil sonst nicht zu entscheiden ist, ob überhaupt ein Beweisantrag vorgelegen hat oder nicht.

Soweit die Verteidigung vorträgt, sie habe beantragt „ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der zum Zeitpunkt der Tat kindlichen Zeugen V. K., geb. am , und M. K., geb. am einzu-holen“, kann die Angeklagte keinen Verstoß gegen § 244 Abs. 3 und 4 StPO rügen, denn dies setzt voraus, dass ein Beweisantrag fehlerhaft abgelehnt worden ist. Das ist – soweit erkennbar – hier aber nicht der Fall. Ein Beweisantrag zeichnet sich dadurch aus, dass der Antragsteller eine konkrete Tatsache behauptet und verlangt, mittels eines bestimmt bezeichneten Beweismittels darüber Beweis zu erheben (vgl. Senat, Urteil vom 11. September 2012 – [4] 161 Ss 89/12 [175/12]). Diese Voraus-setzungen sind nach dem Vortrag nicht erfüllt. Beweisbehauptungen fehlen vielmehr gänzlich, denn es sind keine tatsächlichen Umstände oder Geschehnisse (oder sachverständig zu bewertende Tatsachen) zum Gegenstand des Antrags gemacht worden, sondern allenfalls Beweisziele angedeutet worden („Glaubhaftigkeit der An-gaben“), die sich erst aufgrund weiterer, vom Gericht zu ziehender Schlüsse ergeben könnten (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 1993 - 5 StR 279/93 – [juris] = BGHSt 39, 251; Urteil vom 6. November 1984 - 5 StR 628/84 – bei: Pfeiffer, NStZ 1985, 204 [205/ 206]). Zumindest eine ungefähre Eingrenzung der „Angaben“, deren Glaubhaftigkeit überprüft werden soll, wäre insoweit zu verlangen gewesen, um das Begehren als förmlichen Beweisantrag zu qualifizieren, zumal es sich dabei um „Angaben“ zweier verschiedener Zeugen handeln soll.

Soweit in dem fraglichen Antrag danach lediglich ein (Hilfs-) Beweisermittlungsantrag zu sehen ist, setzt eine zulässige Aufklärungsrüge nicht nur voraus, dass die Revisi-on bestimmte Tatsachen, deren Aufklärung das Gericht unterlassen hat, und die Be-weismittel, deren sich der Tatrichter hätte bedienen sollen, benennt, sondern es be-darf ferner der Darlegung, welche Umstände das Gericht zu der vermissten Beweis-erhebung hätten drängen müssen und insbesondere, welches Ergebnis von der un-terbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 316; NStZ 1999, 45; Senat, Beschluss vom 20. November 2012 – (4) 121 Ss 245/12 (294/12) –; KG, Beschluss vom 16. Dezember 2008 – (2) 1 Ss 377/08 (43/08) –; Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., § 244 Rn. 81).

Auch dieser Anforderung wird die Revisionsbegründung nicht gerecht. Die Revision legt keinerlei konkrete Umstände (außer dem Hilfsantrag selbst) dar, aus denen her-aus sich der Jugendkammer die Notwendigkeit eines Glaubwürdigkeitsgutachtens hätte aufdrängen müssen. So teilt sie keine Auffälligkeiten im Aussageverhalten der Zeugen mit, und zwar weder solche, die durch ihr Alter erklärbar wären, noch solche, die durch die Erkrankung des Zeugen M. K., die im Übrigen nicht nachvollziehbar und mit Bestimmtheit dargelegt wird, verursacht sein könnten.

bb) Die Würdigung von Zeugenaussagen und die Beurteilung ihrer Glaubhaftigkeit ist Aufgabe des Gerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdig-keitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist, und dass sie den beteiligten Laienrichtern diese Sach-kunde jeweils vermitteln können. Ausnahmen können sich ergeben, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Erinnerungsfähigkeit einer Beweisperson aus besonderen, psychodiagnostisch erfassbaren Gründen eingeschränkt ist oder dass besondere psychische Dispositionen oder Belastungen - die auch im verfah-rensgegenständlichen Geschehen selbst ihre Ursache haben können - die Zuverläs-sigkeit der Aussage in Frage stellen könnten, und dass für die Feststellung solcher Faktoren und ihrer möglichen Einflüsse auf den Aussageinhalt eine besondere, wis-senschaftlich fundierte Sachkunde erforderlich ist, über welche der Tatrichter im kon-kreten Fall nicht verfügt (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 241). Ob ein solcher Fall vorliegt, unterliegt der richterlichen Beurteilung im Rahmen der Aufklärungspflicht.

Der Umstand, dass die Zeugen K. zur Tatzeit und zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung Kinder waren, begründet für sich genommen – ohne dass weitere Umstände hinzu-treten - nach dem oben Gesagten nicht die Notwendigkeit einer Glaubwürdigkeitsbe-gutachtung. Vielmehr hat der Gesetzgeber dem Umstand, dass für die Vernehmung verletzter kindlicher Zeugen besondere Sachkunde erforderlich sein kann, gerade durch § 26 GVG Rechnung getragen und diese Verfahren deshalb dem Zuständig-keitsbereich der Jugendgerichte zugewiesen (vgl. Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., § 26 GVG Rn. 3, 4). Die mit Jugendschutzsachen befassten Spruchkörper verfügen regelmäßig über besondere Sachkunde zur Beurteilung der Aussagen kindlicher Zeugen (vgl. BGH, NStZ 2005, 394 = NStZ-RR 2005, 146 m. weit. Nachw.; die von der Verteidigerin zitierte Entscheidung [BGH StV 1994, 173] betraf eine ersichtlich nicht vergleichbare Fallgestaltung des mehrjährigen sexuellen Missbrauchs einer zur Tatzeit anfangs Fünfjährigen mit überwiegend unbestimmten Feststellungen zum Tatgeschehen und [offenbar] eine „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation, in der zudem verschiedene Gesichtspunkte die Richtigkeit der Beschuldigungen in Frage stellten).

Allein das Vorliegen einer Ticstörung („Tourette-Syndrom“, ICD-10 F 95) bei dem Zeugen M. K., die sich nach den Feststellungen auch lediglich in einfachen motori-schen Tics äußerte, bietet nach den allgemein zugänglichen – und damit allgemein-kundigen - Erkenntnissen über diese Erkrankung gleichfalls keinen Anlass, an der Aussagetüchtigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen grundsätzlich zu zweifeln. Die Erkrankung allein hat keine Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Betroffenen zur Folge (vgl. etwa „Gilles de la Tourette - Syndrom – Ein Leitfaden für Lehrer“, herausgegeben vom „Tourette-Gesellschaft Deutschland“ e.V., pdf-Ausgabe S. 10, abrufbar unter www.tourette.de/download/leitfaden_lehrer. pdf; Astrid Viciano, Der mit den Tics, in: DIE ZEIT vom 9. Februar 2006; s. auch BGH, Urteil vom 6. November 2007 – 1 StR 394/07 – [juris]). Die Revision teilt entsprechende Anhaltspunkte, die für eine Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit oder des Er-innerungs- und Wiedergabevermögens des Zeugen von Belang sein könnten, auch nicht mit.

b) Die Rüge wäre im Übrigen jedenfalls unbegründet.

Die Kammer hat den Hilfsantrag mit folgender Begründung (im Urteil) abgelehnt:

„Besonderheiten, die hier die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen
Sachverständigen hätten gebieten müssen, sind in der Beweisaufnahme
nicht aufgetreten. Auch M. K.s Erkrankung führt nicht zu einer anderen Beurteilung. M. K.s Vernehmung gestaltete sich problemlos. Er konnte jeder Frage folgen und angemessen darauf reagieren. Er machte einen intelligenten Eindruck, was bestätigt wird durch den Umstand, dass er die Schule mit gutem Erfolg besucht. In keiner Ver-nehmung von ihm gab es Anhaltspunkte dafür, dass infolge seiner Erkrankung seine Aussagefähigkeit eingeschränkt gewesen sein könnte. Auch Widersprüche oder Aus-lassungen in den Angaben beider Kinder sind ohne Weiteres mit dem Zeitablauf und dem jungen Alter der Zeugen zu erklären. Die Vorfälle liegen bereits mehrere Jahre zurück.“

Im Rahmen der Beweiswürdigung, die der Senat im Hinblick auf die zulässig erhobe-ne Sachrüge heranziehen darf, hat sich die Kammer - ergänzend zu den mitgeteilten Gründen für die Ablehnung des Hilfsantrages - ausführlich mit den Aussagen der kindlichen Zeugen auseinandergesetzt:

„Ein Motiv der Jungen für eine Falschbelastung ist nicht ersichtlich. Die Kammer hat sich auch mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, dass die Kindesmutter die Aussa-gen der Kinder manipuliert haben könnte - etwa um die Aussagen (wie geschehen) im Sorgerechtsstreit zu ihren Gunsten zu verwenden oder durch Geltendmachung von Schmerzensgeld finanzielle Vorteile zu erlangen. Im Hinblick auf die Aussage-qualität kann die Kammer jedoch ausschließen, dass die Angaben das Ergebnis
suggestiver Einflüsse waren. Die Angaben der Kinder waren im Wesentlichen kon-stant. Sie sind im Ermittlungsverfahren richterlich vernommen worden und haben ferner in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ausgesagt. Die Aussagen sind durch Verlesung der Protokolle in die Hauptverhandlung eingeführt worden. Beide Jungen haben den Vorfall im Fall 1 in allen Vernehmungen beschrieben. Ihre Anga-ben waren dabei konstant hinsichtlich des Anlasses (Grimassen im Bus), dem rohen Angehen im Fahrstuhl sowie der Tathandlung, dem Stecken der Cremedose in den Mund. Soweit sie in der Hauptverhandlung unsicher waren, wer die Cremedose wie-der herausgezogen hat, ist dies durch den Zeitablauf und das junge Alter der Zeugen zwanglos zu erklären. Auch dass V. K. im Verfahren angab, es habe sich um eine Dose aus Glas gehandelt, während M. K. von einer Blechdose gesprochen hat, ist
auf den Zeitablauf und die nachlassende Erinnerungsleistung zurückzuführen. Beide Zeugen schildern ein sehr originelles Geschehen in seiner Abfolge stimmig, ohne dabei Belastungseifer zu zeigen. Denn es wurden zwar von beiden Jungen Verlet-zungen geschildert, die sie aber als nicht gravierend beschrieben. So verneinten sie etwa, dass es eine starke sichtbare Blutung gegeben habe und M. K. beschrieb kei-ne länger andauernden Beschwerden in Folge der Tathandlung. Auch die Übergriffe anlässlich des Essens von Gurken und Tomaten schildern beide Kinder
übereinstimmend und konstant, ohne dass Belastungstendenzen sichtbar würden. So schilderte V. K., dass darauf regelmäßig mit Schlägen mit der flachen Hand rea-giert worden sei. Mit dem Stock nur selten. Er könne sicher den Stockeinsatz in die-sem Zusammenhang nur in einem Fall erinnern. Auch hier wäre im Fall einer fal-schen oder manipulierten Aussage, mit dem Ziel die Angeklagte in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken, zu erwarten gewesen, dass ein häufigeres Vorgehen mit dem Stock geschildert wird. Die Aussage von V. K. blieb aber jeweils differenziert. Das gilt auch im Hinblick darauf, dass beide Kinder erklärten, dass es „Licht und Schatten“ gegeben habe. Sie hätten auch schöne Zeiten in der Familie verbracht und insbesondere am Wochenende Ausflüge unternommen, die ihnen Spaß gemacht hätten.“

Gab es danach keinerlei konkrete Anhaltspunkte für störende Auswirkungen des ge-ringen Alters der Zeugen oder der Erkrankung des Zeugen M. K. auf deren Aussage-verhalten, musste sich die Kammer nicht gedrängt sehen, externen Sachverstand zur Beurteilung der Validität von deren Aussagen heranzuziehen, sondern durfte mit Recht ihre eigene Sachkunde zur Beurteilung der Zuverlässigkeit der Aussagen und der Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen annehmen.

2. Die Überprüfung des Urteils im Hinblick auf die allgemeine Sachrüge der Ange-klagten ergibt das Folgende:

a) Hinsichtlich des Falles 1 (Cremedose) tragen die Feststellungen des Urteils den diesbezüglichen Schuldspruch. Auch gegen die Rechtsfolgenentscheidung bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Strafzumessungserwägungen ob-liegen grundsätzlich dem pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters, dem bei seiner Entscheidung ein Bewertungsspielraum zusteht. Dessen Entscheidung hat das Revi-sionsgericht deshalb bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen. Die Nachprü-fung erstreckt sich lediglich darauf, ob der Tatrichter von unrichtigen oder unvollstän-digen Erwägungen ausgegangen ist oder sonst von seinem Ermessen in rechts-fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. z.B. BGH NJW 1981, 692; BGH NStZ 1990, 334; zum Ganzen: Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl., Rdn. 468-471). Das Tatgericht muss darlegen, dass es bei seiner Entscheidung die erforderliche Gesamtwürdigung vorgenommen und dabei alle wesentlichen Umstände des Falles einbezogen hat. Ein sachlichrechtlicher Fehler liegt mithin z.B. vor, wenn in den Urteilsgründen Umstände außer Acht gelassen werden, die für die Beurteilung des Unrechts- und Schuldgehalts und damit der Schwere der Tat von besonderer Bedeutung sind, deren Einbeziehung in die Strafzumessungserwägungen deshalb nahe lag (vgl. z.B. BGH NStZ 2006, 227, 228 m. w. Nachw.).

Weder macht die Revision einen entsprechenden Fehler geltend noch ist ein solcher hinsichtlich der insoweit erkannten Einzelgeldstrafe von 60 Tagessätzen sonst er-sichtlich.

b) Im Fall 2 tragen die – rechtsfehlerfrei getroffenen - Feststellungen des Landge-richts die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) nicht. Ebenso wie bei der Nr. 1 des Absatzes 1 handelt es sich bei der Nr. 2 um ein konkretes Gefährdungsdelikt, d.h. der Einsatz des gefährlichen Werkzeugs muss die konkrete Gefahr einer erheblichen, also überdurchschnittlichen, Verletzung hervorgerufen haben (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 50; Fischer, StGB 60. Aufl., § 224 Rn. 2; Stree/Sternberg-Lieben in: Schön-ke/Schröder, StGB 28. Aufl., § 224 Rn. 3).

Deshalb ist die Gefährlichkeit eines Werkzeuges vor allem durch dessen Anwendung im konkreten Fall bestimmt. So kann es an der Gefährlichkeit eines an sich „gefährli-chen“ Gegenstandes fehlen, wenn das Werkzeug im Einzelfall „ungefährlich“ einge-setzt wird, z.B. wenn ein Messer zum Haareabschneiden verwendet wird (vgl. BGH aaO).

Außer, dass es sich bei dem Tatwerkzeug um einen dünnen Stock gehandelt haben soll, teilt das Urteil zu dieser Tat – wie weiter oben erwähnt - nur noch mit, dass die Angeklagte damit gegen den Oberkörper und die Schulter des Zeugen V. K. ge-schlagen hat, um ihn zu bestrafen, und er dadurch Schmerzen erlitt.

Da nähere Feststellungen zur Beschaffenheit des Stockes (Stärke, Länge und Härte) und zur Wucht des Schlages (oder der Schläge) fehlen, muss eine Verurteilung we-gen gefährlicher Körperverletzung unterbleiben. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen lässt sich nicht ermessen, ob sich die abstrakt sicher vorhandene Ge-fährlichkeit von (insbesondere mehreren) Stockhieben im vorliegenden Fall tatsäch-lich konkretisiert hat. Daran lässt insbesondere auch die Feststellung der Strafkam-mer zweifeln, wonach das Opfer zwar Schmerzen erlitten hat, aber (so muss das Urteil zu Gunsten der Angeklagten verstanden werden) keine Verletzungen wie z.B. Rötungen, Abschürfungen oder Hämatome. Einer Aufhebung des Schuldspruchs und der zu Grunde liegenden Feststellungen bedarf es indes nicht. Der Senat schließt im Hinblick auf den Zeitablauf aus, dass ein anderer Tatrichter genauere und zugleich sichere Feststellungen zur Art des Stockes und seines Einsatzes treffen könnte und ändert lediglich den Schuldspruch zu Gunsten der Angeklagten ab (§ 354 Abs. 1 StPO analog), weil die Feststellungen die Verurteilung aus dem Grundtatbestand des § 223 StGB ohne weiteres tragen (vgl. Meyer-Goßner aaO, § 354 Rn. 12-15).

Im Hinblick auf die Schuldspruchänderung muss der neue Tatrichter jedoch über die (Einzel-) Strafe für diese Tat und über die Gesamtstrafe neu entscheiden; insoweit war das Urteil deshalb aufzuheben (§ 353 StPO). Der Senat stellt klar, dass sämtli-che Feststellungen – also auch die dem Strafausspruch zugrunde liegenden – auf-rechterhalten bleiben. Ergänzende neue Feststellungen, die den bisher getroffenen nicht widersprechen, sind jedoch möglich.

3. Die auf die Sachrüge der Staatsanwaltschaft noch veranlasste Überprüfung des Einzelstrafausspruches bezüglich des Falles 1 deckt keinen Fehler zu Gunsten der Angeklagten auf. Im Übrigen ist die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegte Revi-sion der Staatsanwaltschaft infolge der Aufhebung des Gesamtstrafausspruchs ge-genstandslos.

III.

Im Umfang der Aufhebung war die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Ver-handlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision - an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen.







Einsender: RiKG Klaus-Peter Hanschke, Berlin

Anmerkung:


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