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Entscheidungen

Sonstiges

Formalgeständnis, Disziplinarverfahren, Bindungswirkung, BVerwG

Gericht / Entscheidungsdatum: BVerwG, Beschl. v. 01.03.2013 - 2 B 78.12

Leitsatz: Ein Strafurteil, das auf einem inhaltsleeren Formalgeständnis beruht und deshalb nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die richterliche Überzeugungsbildung nicht ausreicht, entfaltet im beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren keine Bindungswirkung.


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BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 78.12
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. März 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht und beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2012 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 67 Satz 1 LDG NRW zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsurteil auf der vom Beklagten geltend gemachten Verletzung des § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW beruht. Das Oberverwaltungsgericht hätte die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils beschließen und den Sachverhalt selbst aufklären müssen. Dagegen ist die Grundsatzrüge nicht begründet.
1. Der 1945 geborene Beklagte stand als Studiendirektor im Dienst des Klägers. Auf seinen Antrag hin wurde der Beklagte mit dem Ende des Monats Juli 2008 in den Ruhestand versetzt. Im Mai 2009 wurde der Beklagte wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Im sachgleichen Disziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht dem Beklagten das Ruhegehalt aberkannt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Das rechtskräftige Strafurteil binde die für das Disziplinarverfahren zuständigen Gerichte. Die Voraussetzungen für eine Lösung von den Feststellungen des Strafurteils seien nicht gegeben. Das vom Beklagten in der Hauptverhandlung abgelegte Geständnis sei kein bloßes „abnickendes“ Geständnis, das für eine Verurteilung nicht ausgereicht habe. Der Beklagte habe sich durch den sexuellen Missbrauch eines Kindes in zwei Fällen eines einheitlichen sehr schweren Dienstvergehens schuldig gemacht. Das außerdienstliche Dienstvergehen sei bereits wegen der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe disziplinarwürdig. Die Gesamtbewertung des Dienstvergehens, sämtlicher für und gegen ihn sprechenden Umstände sowie seine aus den Akten ersichtliche und in der Berufungsverhandlung erkennbar gewordene Persönlichkeit führe zu der Prognoseentscheidung, dass das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit in den Beklagten unwiederbringlich zerstört sei. Die durch sein Verhalten verursachte Beeinträchtigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortdauer des Beamtenverhältnisses nicht wieder gut zu machen.
2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sieht die Beschwerde in der Frage,
„ob ... strafrechtliche Urteile, die im vermeintlichen ‚Erledigungsinteresse’ aller Beteiligten in offensichtlich rechtswidriger Weise zustande gekommen sind, an der Bindungswirkung des § 56 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW teilnehmen sollen und dürfen.“
Grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 67 Satz 1 LDG NRW) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine - vom Beschwerdeführer zu bezeichnende - grundsätzliche, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf und die für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein wird (stRspr., u.a. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>). Die in der Beschwerde aufgeworfene Frage der Bindungswirkung von „in offensichtlich rechtswidriger Weise zustande“ gekommenen Urteilen für das Disziplinarverfahren vermag die Zulassung der Revision nicht zu rechtfertigen, weil sie in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt ist.
Nach § 56 Abs. 1 LDG NRW sind die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren im Disziplinarverfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, für das Gericht bindend. Das Gericht hat jedoch die erneute Prüfung solcher Feststellungen zu beschließen, die offenkundig unrichtig sind. Diese gesetzliche Bindungswirkung dient der Rechtssicherheit. Sie soll verhindern, dass zu ein- und demselben Geschehensablauf unterschiedliche Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Der Gesetzgeber hat die Aufklärung eines sowohl strafrechtlich als auch disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalts sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung den Strafgerichten übertragen.
Dementsprechend sind die Verwaltungsgerichte nur dann berechtigt und verpflichtet, sich von den Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen und den disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalt eigenverantwortlich zu ermitteln, wenn sie ansonsten „sehenden Auges“ auf der Grundlage eines unrichtigen oder aus rechtsstaatlichen Gründen unverwertbaren Sachverhalts entscheiden müssten. Dies ist etwa der Fall, wenn die Tatsachenfeststellungen des Strafurteils in Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus sonstigen Gründen offenbar unrichtig sind. Darüber hinaus kommt eine Lösung in Betracht, wenn neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht nicht zur Verfügung standen und nach denen die Tatsachenfeststellungen jedenfalls auf erhebliche Zweifel stoßen. Die Bindungswirkung entfällt aber auch bei Strafurteilen, die in einem ausschlaggebenden Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind (Urteile vom 29. November 2000 - BVerwG 1 D 13.99 - BVerwGE 112, 243 <245> = Buchholz 235 § 18 BDO Nr. 2 S. 5 f. und vom 14. März 2007 - BVerwG 2 WD 3.06 - BVerwGE 128, 189 <190> = Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 25; Beschlüsse vom 24. Juli 2007 - BVerwG 2 B 65.07 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11 und vom 26. August 2010 - BVerwG 2 B 43.10 - Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 3 Rn. 5).
8 3. Begründet ist aber die Verfahrensrüge, das Oberverwaltungsgericht sei zu Unrecht von der Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils ausgegangen und habe deshalb den Sachverhalt nicht selbst aufgeklärt.
Dem Strafurteil kommt keine Bindungswirkung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW zu, weil es in einem ausschlaggebenden Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist. Das Amtsgericht hat die tatsächlichen Feststellungen seines nicht nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteils ausschließlich auf das inhaltsleere Formalgeständnis des Beklagten in der Hauptverhandlung gestützt. Nach den Grundsätzen des Bundesgerichtshofs zur Bewertung von Geständnissen, der sich der Senat anschließt, konnte die Verurteilung des Beklagten aber nicht allein auf dessen Erklärungen in der Hauptverhandlung gegründet werden.
Das Strafgericht hat auf der Grundlage des nach § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen aufzuklärenden Sachverhalts den Schuldspruch zu treffen und die entsprechenden Rechtsfolgen festzusetzen. § 244 Abs. 1 und § 261 StPO schließen es aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht aus, eine Verurteilung allein auf ein in der Hauptverhandlung abgegebenes Geständnis des Angeklagten zu stützen, sofern dieses dem Gericht die volle Überzeugung von der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Tat sowie der Schuld des Angeklagten zu vermitteln vermag (BGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - 3 StR 474/85 - StV 1987, 378; Beschluss vom 19. August 1993 - 4 StR 627/92 - BGHSt 39, 291 <303>). Aber selbst wenn der Angeklagte im Rahmen einer Verfahrensabsprache geständig ist, ist es unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zugrunde zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung unter vollständiger Ausschöpfung des Materials beruht. Die Bereitschaft eines Angeklagten, wegen eines bestimmten Sachverhalts eine Strafe hinzunehmen, die das gerichtlich zugesagte Höchstmaß nicht überschreitet, entbindet das Gericht nicht von der Pflicht zur Aufklärung und Darlegung des Sachverhalts, soweit dies für den Tatbestand der dem Angeklagten vorgeworfenen Gesetzesverletzung erforderlich ist. Danach muss auch bei Fällen, bei denen das Gericht eine Strafobergrenze in Aussicht gestellt hat, das abgelegte Geständnis auf seine Zuverlässigkeit hin überprüft werden. Das Gericht muss von der Richtigkeit des Geständnisses überzeugt sein. Es hat zu prüfen, ob das abgelegte Geständnis mit dem Ermittlungsergebnis zu vereinbaren ist, ob es in sich stimmig ist und ob es die getroffenen Feststellungen trägt. Das Geständnis muss demnach wenigstens so konkret sein, dass geprüft werden kann, ob es derart mit der Aktenlage in Einklang steht, dass sich hiernach keine weitergehende Sachverhaltsaufklärung aufdrängt. Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis reicht dagegen nicht aus (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 3. März 2005 - GSSt 1/04 - BGHSt 50, 40 S. 49 f.; BGH, Beschlüsse vom 20. April 2004 - 5 StR 11/04 - NJW 2004, 1885 f. und vom 25. Januar 2006 - 1 StR 438/05 - NStZ-RR 2007, 20 f., Urteil vom 26. Januar 2006 - 3 StR 415/02 - NStZ-RR 2006, 187 f., Beschlüsse vom 13. Juni 2007 - 3 StR 162/07 - NStZ-RR 2007, 307 <309> und vom 11. Dezember 2008 - 3 StR 21/08 - NStZ 2009, 467 f.).
Die Erklärungen des Beklagten, die er nach der Niederschrift über die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht abgegeben hat, reichen danach als Grundlage für eine Verurteilung nicht aus. Denn sie räumen die Tat nur formal ein, haben aber keine inhaltliche Substanz, die dem Amtsgericht die Prüfung ermöglicht hätte, ob das Geständnis des Beklagten mit der Aktenlage, insbesondere mit der Aussage der Geschädigten in ihrer richterlichen Vernehmung, übereinstimmt. Der Beklagte hat zunächst seinen Verteidiger lediglich die - inhaltsleere - Erklärung abgeben lassen, er räume „die Taten - wie in der Anklage geschrieben - ein“. Der Beklagte ist zwar anschließend vom Vorsitzenden befragt worden. Ausweislich der Niederschrift über die Hauptverhandlung hat der Beklagte aber auch dabei keine Angaben zur Sache gemacht, sondern lediglich „die Taten zugegeben“. Das Amtsgericht hat zwar noch aufgrund des Strafregisters festgestellt, dass der Beklagte nicht vorbestraft ist. Auch im Anschluss an diese tatsächliche Feststellung hat der Beklagte keinerlei Angaben zum Tatgeschehen gemacht. Dies gilt auch für das ihm zustehende letzte Wort (§ 258 Abs. 2 StPO). Zu der Vernehmung der präsenten Zeugen kam es nicht mehr, weil auch der Beklagte (vgl. § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO) hierauf verzichtet hat.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO, § 67 Satz 1 LDG NRW).

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