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Entscheidungen

StGB/Nebengebiete

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, Obhutsverhältnis

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Koblenz, Beschl. v. 29.11.2012 - 1 Ss 213/11

Fundstellen:

Leitsatz: Zu den Anforderungen an ein Obhutsverhältnis i.S. des § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB


OBERLANDESGERICHT
KOBLENZ
BESCHLUSS
In der Strafsache gegen pp.
wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch die Vorsitzende Richterin am Ober-landesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Amtsgericht am 29. De-zember 2011 beschlossen:

Der Angeklagte wird unter Aufhebung des Urteils der 5. kleinen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 27. Juni 2011 freigesprochen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Gründe
I.
1. Die Revision des Angeklagten richtet sich gegen das Berufungsurteil das Landgerichts Koblenz vom 27. Juni 2011, durch das er, wie in erster Instanz, wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 22 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren (mit Strafaussetzung zur Bewährung) verurteilt wurde.

Gegenstand des Verfahren sind sexuelle Handlungen des Angeklagten an/mit der am 2. April 1992 geborenen X. in der Zeit vom 8. Januar bis zum 31. Mai 2007. Während dieses Zeitraumes besuchte X. die YYY. Schule in Z., an der der Angeklagte seit 2003 als Lehrer tätig war.

2. Zu der Lehrertätigkeit des Angeklagten und seiner (beruflichen) Beziehung zu X. hat die Strafkammer festgestellt:
3.
Nach Abschluss des Studiums wurde der Angeklagte im Schuljahr 2003/2004 an der Regionalen Schule in Z. eingestellt und übernahm dort eine 6. Klasse im Hauptschulzweig als Klassenlehrer. ... Der Unterricht in der insgesamt 5-zügigen Schule war so organisiert, dass zur Vermeidung von Unterrichtsausfall die Schüler einer Klasse auf die übrigen Klassen der Klassenstufe aufgeteilt wurden. So kam es etwa zu Beginn des Jahres 2007 wiederholt dazu, dass der Angeklagte Schüler der Parallelklassen in katholischer Religion unterrichtete, weil der Zeuge M erkrankt war. Dies war mindestens zwei Mal der Fall, ohne dass der Angeklagte Einfluss auf die Notengebung in diesem Fach genommen hätte.

Die von dem Angeklagten geführte Klasse strebte im Schuljahr 2006/2007 den Hauptschulab-schluss an. Zur festlichen Gestaltung der Abschlussfeier begann die Klasse auf Initiative des An-geklagten schon früh, ein Musical einzustudieren. Ebenfalls auf Initiative des Angeklagten nahmen die Schüler der Klassenstufe 9 an einem von dem Angeklagten und einer Kollegin einmal wö-chentlich in den Nachmittags- stunden veranstalteten Tanzkurs teil, um die Schüler in die Lage zu versetzen, auf der Abschlussfeier zu tanzen.

Wiederum auf Initiative des Angeklagten besuchte die Klasse zu Beginn des Jahres 2006 eine Musicalaufführung in Hamburg. An dieser Veranstaltung, die mit zwei mehrstündigen Busfahrten verbunden war, nahm auch die am 02. April 1992 geborene Schülerin X. teil. X. war ebenfalls Schülerin dieser Jahrgangsstufe, jedoch in einer Parallelklasse des Realschulzweiges, der die Schule ein Jahr später mit dem Realschulabschluss abschließen sollte. Auf Bitten einer Freundin aus der Klasse des Angeklagten war es X. ermöglicht worden, als Schülerin einer Parallelklasse ebenfalls an der Fahrt teilzunehmen.

Während der zwei mehrstündigen Busfahrten saß die Zeugin X., die damals eher schüchtern und zurückhaltend war, neben dem Angeklagten auf einem Zweiersitz, da alle anderen Plätze vergeben waren. Beide führten während der Busfahrten angeregte Gespräche „über Gott und die Welt", was dadurch erleichtert wurde, dass der Angeklagte aus dem Schulunterricht die Schwester der Zeugin X. kannte, die die Schule ein Jahr zuvor verlassen hatte. ...

Während der folgenden Monate kam es immer wieder, insbesondere aus Anlass der Pausenaufsicht des Angeklagten, zu kurzen Gesprächskontakten mit X., die den Angeklagten sympathisch fand, wie er sich auch bei vielen Schülern großer Beliebtheit erfreute.

In den Weihnachtsferien 2006/2007 nahmen der Angeklagte und X. über ICQ näheren Kontakt auf, wobei sie sich alsbald duzten. ...

Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien kam es zu einer ersten Begegnung Beider, die sich im Online-Chat bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder ihre Gefühle gestanden hatten. Dabei kam es in der Folgezeit auch immer wieder zum Austausch von Zärtlichkeiten und zu sexuellen Handlungen. ...

Im Tatzeitraum war X. zwar nicht Schülerin in der Klasse des Angeklagten. Sie besuchte jedoch, wie bereits ausgeführt, eine der Parallelklassen und kam auf diese Weise wiederholt mit dem Angeklagten auch in seiner Eigenschaft als Lehrer in Kontakt. So nahm sie mindestens dreimal am Unterricht der Klasse des Angeklagten teil, weil der Fachlehrer ihrer Klasse, in zwei Fällen der Zeuge M. und in einem Fall der Kunstlehrer, durch Krankheit verhindert war. In dem Fach Katholische Religion, in dem X. zweimal am Unterricht des Angeklagten teilnahm, fand jedoch kein planmäßiger Unterricht statt. Dieser Unterricht durch den Angeklagten hatte in keinem Fall Einfluss auf die Noten des Jahreszeugnisses, zumal der Angeklagte zum Zeitpunkt der Zeugniskonferenzen am Schuljahresende die Schule bereits verlassen hatte und in die Notengebung nicht involviert war."

3. In der rechtlichen Würdigung heißt es:

„Nach dem so festgestellten Sachverhalt hat der Angeklagte sich des Missbrauchs von Schutzbe-fohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in 22 Fällen schuldig gemacht. Die Zeugin X. war ihm als Schülerin der Regionalen Schule in Z. zur Erziehung und zur Ausbildung anvertraut. Dass der Angeklagte nicht ihr Klassenlehrer und auch in keinem Fach Fachlehrer war und er ihr keine Noten gegeben hat, ist dabei ohne Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich bei der Regionalen Schule um eine Regelschule handelt, die von Schülern im Rahmen der Schulpflicht be-sucht wird. Lehrer arbeiten im Team und sind sämtlich für alle Schüler der Schule verantwortlich, insbesondere auch für ihr Verhalten diesen gegenüber."

II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg, weil die tatrichterlichen Feststellungen den Schuldspruch nicht tragen. Weil auch nicht zu erwarten ist, dass in einer erneuten Hauptverhandlung weitergehende, unter einen Straftatbestand zu subsumierende Feststellungen getroffen werden können, ist der Angeklagte freizusprechen.

1. Unangemessenes, unanständiges oder verantwortungsloses Verhalten ist nicht per se strafbar, sondern nur dann, wenn es unter einen zur Tatzeit geltenden Straftatbestand zu subsumieren ist. Der allein in Betracht kommende § 174 Abs. 1 StGB — für eine Anwendbarkeit des § 182 StGB gibt es keinen Anhaltspunkt — setzt in den hier relevanten Alternativen der Nummern 1 und 2 voraus, dass zum Zeitpunkt der sexuellen Handlungen zwischen den beteiligten Personen ein besonderes, der Erziehung, der Ausbildung oder der Betreuung des minderjährigen Opfers in der Lebensführung dienendes Obhutsverhältnis besteht. Dem Täter muss das Recht und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Minderjährigen und damit dessen geistig- sittliche Entwicklung im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne einer Unter- und Überordnung zu überwachen und zu leiten (BGH v. 21.04.1995 - 3 StR 526/94 - juris Rn. 5 - BGHSt 41, 137; BGH v. 10. 6. 2008 - 5 StR 180/08 - juris Rn. 5 - NStZ-RR 2008, 307). Die (bei einem Lehrer in erster Linie in Betracht kommende) Erziehung übt derjenige aus, der für die Überwachung der Lebensführung des Jugendlichen und seine körperliche, psychische und moralische Entwicklung verantwortlich ist, was naturgemäß entsprechende Einwirkungsmöglichkeiten über einen gewissen Zeitraum voraussetzt.

2. Ob ein solches Verhältnis besteht, ist nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalles zu beurteilen. Es ist entgegen der Auffassung der Strafkammer nicht ohne weiteres zwischen allen Lehrern und Schülern einer Schule zu bejahen (BGH v. 30.10.1963 - 2 StR 357/63 - juris Rn. 11 - BGHSt 19, 163), wenn auch der Täterkreis nicht zwangsläufig auf Klassen- oder Fachlehrer be-grenzt ist. Bei einer 5-zügigen Regionalen Schule handelt es sich allerdings auch nicht um eine „Zwergschule", in der sich alle Lehrer und Schüler gegenseitig kennen, jeder Lehrer auch tatsäch-lich jeden Schüler als ihm zur Erziehung anvertraut behandelt und alle sich im täglichen Umgang der Über- und Unterordnung bewusst sind.

3. Die von der Strafkammer festgestellten tatsächlichen Verhältnisse rechtfertigen nicht die An-nahme eines Obhutsverhältnisses im Sinne des § 174 Abs. 1 Nrn. 1 u. 2 StGB.

a) Da ein solches Verhältnis zur Tatzeit bestehen muss, ist der Umstand, dass X. dem Ange-klagte für die Dauer der Klassenfahrt Anfang 2006 anvertraut gewesen sein dürfte, irrelevant, denn zu den ersten sexuellen Handlungen kam es erst Anfang 2007.

b) Die tatrichterlichen Feststellungen lassen zwar offen, ob auch X. (während des Tatzeitrau-mes?) zu den Schülerinnen gehörte, die freiwillig außerhalb der Unterrichtszeit einmal wöchentlich einen Tanzkurs besuchten, der unter anderem von dem Angeklagten geleitet wurde. Aber selbst wenn X. während des Tatzeitraumes regelmäßig an diesem Tanzkurs teilgenommen haben sollte, hätte dies kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nrn. 1 u. 2 StGB begründet. Zweck der Veranstaltung war es, die Teilnehmer „in die Lage zu versetzen, auf der Abschluss- feier zu tanzen". Weitergehende Erziehungs- oder Betreuungsziele waren damit nicht verbunden.

c) Die dreimalige Tätigkeit des Angeklagten als Vertretungslehrer begründete, wenn überhaupt, allenfalls ein temporäres, auf die Dauer dieser Tätigkeit beschränktes Obhutsverhältnis. Eine weitergehende (Mit-)Verantwortung des Angeklagten für die körperliche, psychische und moralische Entwicklung von X. lässt sich aus ihr aber ebenso wenig ableiten wie aus einer turnusmäßigen Aufsichtsführung in Pausen.

d) Nach den Feststellungen zum Tatgeschehen hatten sich der Angeklagte und X. insgesamt 5 Mal nach vorheriger Verabredung während der Unterrichtszeit im Putzraum der Schule getroffen, wo es dann jeweils zu sexuellen Handlungen gekommen war. Dadurch wurde aber kein (temporäres oder dauerhaftes) Obhutsver-hältnis begründet, das die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 1 StGB eröffnete.

4. Das angefochtene Urteil ist somit wegen unzureichender tatsächlicher Feststellungen aufzuheben (§ 349 Abs. 4 StPO). Von einer Zurückverweisung hat der Senat abgesehen und in der Sache selbst entschieden (§ 354 Abs. 1 StPO), weil ausgeschlossen werden kann, dass in einer erneuten Hauptverhandlung eine strafrechtlich relevante Schuld des Angeklagten festgestellt werden könnte. Über die (wohl nicht gegebene) Eignung des Angeklagten für den Lehrerberuf ist an anderer Stelle zu entscheiden.

An der Feststellung, dass der Angeklagte weder Klassen- noch Fachlehrer der X. gewesen war, würde sich nichts ändern. Als Lehrer im vierten Berufsjahr kann er auch noch keine die Annahme eines Obhutsverhält-nisses nahelegende Leitungsfunktion innegehabt haben, was durch den Akteninhalt (zu dessen Berücksich-tigung bei der Entscheidung nach § 354 Abs. 1 StPO siehe KG v. 17.01.2007 - 1 Ss 448/06 - StraFo 2007, 245) bestätigt wird. Vertrauenslehrer war der Angeklagte während des Tatzeitraums auch nicht. Aus den Akten ergibt sich zudem, dass an der YYYY. Schule in Z. im Schuljahr 2006/2007 ca. 500 Schülerinnen und Schüler von einem aus 34 Personen bestehenden Lehrkörper unterrichtet wurden, so dass es schon aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, dass jede(r) Jugendliche, die/der diese Schule besuchte, dem Angeklagten zur Erziehung anvertraut war.

Einsender: RA Dr. Ingo Fromm, Koblenz

Anmerkung:


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