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Gericht / Entscheidungsdatum: LG Verden, Beschl. v. 29.03.2011 - 1 Qs 34/11 u. 1 Qs 35/11
Fundstellen:
Leitsatz: Allein der Umstand, dass der Angeklagte Analphabet ist, begründet nicht ohne weiteres die Erforderlichkeit einer Pflichtverteidigerbeiordnung. Anders ist dies jedoch zu beurteilen, wenn eine schwierige Sachlage gegeben ist und zahlreiche Urkunden wesentlicher Teil der Beweisaufnahme sein werden.
- Verteidiger: zu 1. Rechtsanwalt R.F. zu 2. Rechtsanwalt C.H. - wegen Betruges hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts in Verden durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, Richter am Landgericht und Richterin am 29. März 2011 beschlossen: Auf die Beschwerde des Angeklagten zu 1. vom 6. Dezember 2010 wird der Beschluss des Amtsgerichts Nienburg (Weser) vom 30. November 2010 aufgehoben. Dem Angeklagten zu 1. wird Rechtsanwalt F., als Pflichtverteidiger beigeordnet. Auf die Beschwerde der Angeklagten zu 2. vom 7. Dezember 2010 wird der Beschluss des Amtsgerichts Nienburg (Weser) vom 6. Dezember 2010 aufgehoben. Der Angeklagten zu 2. wird Rechtsanwalt H. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der diesbezüglichen notwendigen Auslagen der Angeklagten trägt die Landeskasse (§ 467 Abs.1 StPO analog). Die Entscheidungen unterliegen keiner weiteren Anfechtung (§ 310 Abs.2 StPO).
Gründe: Die Beschwerde des Angeklagten zu 1. vom 6. Dezember 2010 (BI. 178 Bd. II d.A.) gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nienburg (Weser) vom 30. November 2010 (BI. 171 Bd. II d.A.), durch den der Antrag des Angeklagten zu 1. vom 11. November 2010 (BI. 166 Bd. II d.A.), dass ihm Herr Rechtsanwalt R.F. als Pflichtverteidiger beigeordnet werden möge, zurückgewiesen wurde, und die Beschwerde der Angeklagten zu 2. vom 7. Dezember 2010 (BI. 181 Bd. II d.A.) gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nienburg (Weser) vom 6. Dezember 2010 (BI. 175 Bd. II d.A.), durch den der Antrag der Angeklagten zu 2. vom 3. Dezember 2010 (BL 172 Bd. 11 d.A.), dass ihr Herr Rechtsanwalt H. als Pflichtverteidiger beigeordnet werden möge, zurückgewiesen wurde, sind statthaft gemäß § 304 Abs.1 StPO und im Übrigen auch zulässig. Sie haben in der Sache auch Erfolg. Den Anträgen der Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers war jeweils zu entsprechen, weil die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 S.1 2.Alt. StPO vorliegen.
Gemäß § 140 Abs. 2 S.1 2.Alt. StPO bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwierigkeit der Sachlage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Die Sachlage ist schwierig, wenn die Feststellungen zur Täterschaft oder Schuld eine umfangreiche, voraussichtlich länger dauernde Beweisaufnahme erfordern. Die Schwierigkeit der Sachlage, die sich nach dem Umständen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beiordnung beurteilt, ist auch dann gegeben, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann (vgl. Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 140, Rn. 22).
Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf das zugrundeliegende Strafverfahren gegeben. a). Vorliegend werden die Angeklagten verdächtig, sich durch zwei Straftaten eines Betruges gern. § 263 StGB strafbar gemacht zu haben, indem sie als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft die Auszahlung von Arbeitslosengeld II dadurch erwirkten, dass sie trotz der ihnen aus dem ihnen ausgehändigten Merkzettel bekannten Pflicht, jegliche für den Leistungsbezug relevanten Umstände und Veränderungen anzuzeigen, pflichtwidrig die Tätigkeit und Einnahmen des Angeklagten zu 1. als selbstständiger Schrotthändler der ARGE nicht mitteilten, so dass ihnen insgesamt ein Betrag in Höhe von 5.101,00 Euro, auf den sie es auch abgesehen hatten, zu Unrecht ausgezahlt wurde. Der Tatverdacht wird insbesondere auf eine Vielzahl von Urkunden (über 30 Ablieferungsbelege) gestützt, die der Angeklagte zu 1. durch die erhalten haben soll (vgl. Ermittlungsakte des Hauptzollamtes Osnabrück BI. 1 ff. Bd. II d.A.) und die die Höhe der tatsächlich erzielten Einkünfte durch den Angeklagten zu 1. belegen sollen. Das Amtsgericht hat in seinem Schreiben vom 17. Dezember 2010 (BI. 208 Bd. II d.A.) an die Staatsanwaltschaft Verden angemerkt, dass bei Durchsicht der Ablieferungsbelege der Eindruck entstehe, dass nicht alle Unterschriften vom Angeklagten zu 1. stammen (können). Dies sei extrem evident. Es seien mehrere verschiedene Unterschriften zu erkennen, teilweise seien die Belege auch mit anderen Namen unterschrieben. Insofern sei fraglich, ob dem Angeklagten tatsächlich das gesamte Einkommen zuzurechnen sei. Es bestehe die Möglichkeit, dass andere Personen auf den Namen des Angeklagten zu 1. Metall abgeliefert haben. Darüber hinaus bestehe auch die Möglichkeit, dass einige der Belege vom Schrottplatz selbst erstellt worden sind, um beispielsweise die eigentliche Herkunft des Schrottes zu verschleiern. Ferner sei auch zweifelhaft, ob es ausreichend sei, bei einem selbstständigen Schrottsammler als Unkosten ca. 20 % des Einkommens abzuziehen. Es würden Kosten für den Einkauf des Altmetalls sowie Benzin bzw. Vorhaltekosten für einen PKW entstehen. Gegebenenfalls müsste ein höherer Prozentsatz abgezogen werden.
b). Es ist von einer Schwierigkeit der Sachlage im Sinne des § 140 Abs. 2 S.1 2.Alt. StPO auszugehen. Der Tatverdacht wird gestützt auf eine Vielzahl von Urkunden, deren Urheberschaft offensichtlich derzeit nicht geklärt ist. Eine Aufklärung des Tatverdachts würde daher bereits nach den Ausführungen des Amtsgerichts in seinem Schreiben vom 17. Dezember 2010 eine umfangreiche Beweisaufnahme, ggfs. auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Klärung der Frage, ob der Beschuldigte die Unterschriften geleistet hat, erfordern. Zu einer angemessenen Verteidigung und Vorbereitung auf die Hauptverhandlung wird insoweit eine umfangreiche Aktenkenntnis erforderlich sein. Ausweislich des Nichtabhilfebeschlusses des Amtsgerichts Nienburg (Weser) vom 26. Januar 2011. (BI. 218 Bd. II d.A) ist vorliegend zudem davon auszugehen, dass der Angeklagte zu 1. Analphabet ist, so dass diesem bereits nach § 140 Abs.2 Alt. 3 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen sein dürfte, weil er nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Zwar begründet der Umstand, dass der Angeklagte Analphabet ist, nach zutreffender Ansicht des Amtsgerichts nicht ohne weiteres die Erforderlichkeit einer Pflichtverteidigerbeiordnung (vgl. Beschluss der Kammer vom 28. Juni 2010, Az. 1 Qs 137/10). Anders ist dies jedoch zu beurteilen, wenn wie vorliegend eine schwierige Sachlage gegeben ist und zahlreiche Urkunden wesentlicher Teil der Beweisaufnahme sein werden.
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