Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

Haftfragen

Untersuchungshaft, Fortdauer, Sechs-Monats-Frist

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Nürnberg, Beschl. v. 26.08.2010 - 1 Ws 462/10 H

Fundstellen:

Leitsatz: Ist durch eine prozessleitende Verfügung des Vorsitzenden die gründliche Vorbefassung mit dem Verfahren belegt und damit vom Vorliegen der Eröffnungsreife bereits vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses auszugehen, so ist bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot in Haftsachen beachtet wurde, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Eröffnungsreife und nicht auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Erlasses des Eröffnungsbeschlusses abzustellen.


OLG Nürnberg, Beschl. v. 26.08.2010 - 1 Ws 462/10 H
In pp.
Der Haftbefehl des Amtsgerichts R. vom 27.2.2010, Gz. 435/10 III, wird aufgehoben.
Gründe:
I.
Der Angeklagte Y. befindet sich ununterbrochen seit dem 27.2.2010 aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts R. vom selben Tage wegen des dringenden Verdachts des schweren Raubes in Untersuchungshaft.
Mach §§ 121, 122 StPO hat jetzt das Oberlandesgericht über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden. Staatsanwaltschaft und Gericht halten den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für erforderlich.
II.
Die Voraussetzungen gemäß § 121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus sind nicht gegeben.
Der Angeklagte ist zwar aufgrund seiner geständigen Einlassung der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Auch die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr begegnet aufgrund der Bindungslosigkeit des Angeklagten keinen Bedenken.
Dennoch unterliegt der an sich gerechtfertigte Haftbefehl der Aufhebung, da das Verfahren nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren hat Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es unvereinbar, dass die 1. Strafkammer des Landgerichts R. die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache immer noch nicht begonnen, sondern erst für den 24.9.2010 und damit erst fünf Monate nach Abschluss der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft vorgesehen hat, ohne dass hierfür ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO gegeben ist.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der (Anordnung und) Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegen gehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG StV 2008, 421 m.w.N.).
Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor dem Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 271) . Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 m.w.N.).
b) Weiter ist nach der inzwischen in einer Vielzahl von Entscheidungen herausgearbeiteten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte dem Beschleunigungsgebot – sofern nicht besondere Umstände vorliegen – regelmäßig nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen wird (vgl. BVerfG StV 2007, 366 m.w.N., OLG Nürnberg StraFo 2008, 469). Hier ist primär zwar auf den förmlichen Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses abzustellen, darüber hinaus ist aber auch zusätzlich zu prüfen, ob bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Eröffnungsreife gegeben war. Denn mit dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot wäre es unvereinbar, wenn das Gericht trotz bestehender Eröffnungsreife den Erlass des Eröffnungsbeschlusses etwa nur deshalb aufschiebt, um einen größeren zeitlichen Spielraum für die nachfolgende Terminierung zu erlangen. Dabei kann im Regelfall die Eröffnungsreife frühestens mit Ablauf der Einlassungsfrist gem. § 201 Abs. 1 StPO eintreten und setzt weiter voraus, dass das Gericht den Inhalt der Akten umfassend geprüft hat, so dass das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachtes im Sinne des § 203 StPO beurteilt werden kann. Soweit dies nach den Umständen des Einzelfalles allerdings angenommen werden muss, ist bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot beachtet wurde, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Eröffnungsreife abzustellen und nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Eröffnungsbeschlusses (Senatsbeschluss StV 2009, 367).
2. Nach diesen Vorgaben verbietet sich vorliegend die Anordnung der Haftfortdauer und der Haftbefehl des Amtsgerichts R. vom 27.2.2010 ist aufzuheben.
a) Die notwendigen Ermittlungen waren – was bereits deren zügiger Abschluss durch die Polizei am 8.4.2010 und durch die Staatsanwaltschaft am 20.4.2010 belegt – nicht zuletzt auf Grund des frühzeitigen Geständnisses des Angeklagten weder besonders schwierig, noch besonders umfangreich; ihre Durchführung erfolgte mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung.
b) Eine ohne weiteres vermeidbare, wenn auch isoliert betrachtet noch nicht erhebliche Verfahrensverzögerung um drei Wochen ist zunächst dadurch eingetreten, dass die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft R. vom 20.4.2010 entsprechend einer Beanstandung durch den Vorsitzenden der 1. Strafkammer des Landgerichts R. vom 26.4.2010 wegen unklarer Sachverhaltsschilderung mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 10.5.2010 zurückgenommen und am 10.5.2010 neu erhoben wurde.
c) Bezüglich der am 10.5.2010 neu erhobenen Anklage hat der Vorsitzende der nunmehr zuständigen 2. Strafkammer zwar unverzüglich mit Verfügung vom 12.5.2010 die Zustellung der Anklageschrift angeordnet und eine Einlassungsfrist von zwei Wochen gesetzt, die entsprechend der am 21.5.2010 erfolgten Zustellung am 4.6.2010 ablief. Zu einer Verfahrensverzögerung ist es im weiteren Verlauf jedoch dadurch gekommen, dass das Verfahren entsprechend einer Überprüfungsanregung durch den Vorsitzenden der 2. Strafkammer mit Verfügung vom 21.5.2010 durch den Vorsitzenden der 1. Strafkammer und der Großen Jugendkammer des Landgerichts R. unter dem Aktenzeichen 1 KLs 3669/10 zur Verbindung übernommen wurde. Der Senat geht hierbei davon aus, dass im Hinblick auf das vollumfängliche Geständnis des Angeklagten und der bereits erfolgten gründlichen Vorbefassung mit dem Verfahren, die durch die Verfügung des Vorsitzenden der 1. Strafkammer vom 26.4.2010 belegt wird, vorliegend bereits mit Ablauf der Einlassungsfrist am 4.6.2010 Eröffnungsreife eingetreten war Gleichwohl hat die Große Jugendkammer des Landgerichts R. nachfolgend erst mit Beschluss vom 12.7.2010 das gegen den Angeklagten Y. anhängige Verfahren mit den gegen den Heranwachsenden Z. bei der Großen Jugendkammer unter den Aktenzeichen KLs 531 Js 94451/09 jug., KLs 534 Js 91134/10 jug. und KLs 109 Js 7205/10 anhängigen Verfahren unter Führung des Verfahrens KLs 531 Js 94451/09 jug. wegen sachlichen und persönlichen Zusammenhangs (§ 3 StPO) verbunden.
Ob und weshalb die Jugendkammer die Verbindung der Verfahren gemäß §§ 103 Abs. 1, 112 JGG zur Erforschung der Wahrheit oder aus anderen wichtigen Gründen für geboten erachtet hat, lässt sich allerdings weder dem Beschluss vom 12.7.2010 noch dem sonstigen Akteninhalt entnehmen. Entsprechend seinem Aktenvermerk vom 6.8.2010 hat der Vorsitzende der Großen Jugendkammer schließlich erst an diesem Tag nach Rücksprachen mit den Verteidigern des Angeklagten Y. und des Angeschuldigten I. sowie den Sachverständigen festgestellt, dass ein mehrtägiger gemeinsamer Termin bis einschließlich November 2010 nicht durchgeführt werden kann. Aus Beschleunigungsgründen hat die Jugendkammer zwar noch mit Beschluss vom 6.8.2010 das Verfahren gegen den Angeklagten Y. wieder abgetrennt. Die Eröffnung des bereits seit 4.6.2010 eröffnungsreifen Hauptverfahrens ist gleichwohl erst mit Beschluss der 1. Strafkammer vom 18.8.2010 entschieden worden. Soweit hierbei Termin zur Hauptverhandlung entsprechend einer bereits am 6.8.2010 getroffenen Terminsabsprache auf den 24.9.2010 und damit deutlich außerhalb der zu beachtenden Drei-Monats-Frist bestimmt wurde, liegen hierfür keine besonderen Umstände vor.
d) Nach alledem bleibt festzuhalten, dass das Vorverfahren durch die Staatsanwaltschaft um drei Wochen und das Zwischenverfahren durch das Gericht um knapp elf Wochen verzögert wurde. Beide Verzögerungen waren vermeidbar. Insbesondere hinsichtlich der ohnehin nicht gemäß § 103 Abs. 1 JGG begründeten Übernahme des Verfahrens durch die Jugendkammer hätte bereits vorab und nicht erst am 6.8.2010 abgeklärt werden müssen, ob bei einer gemeinsamen Verhandlung der verbundenen Verfahren auch in der bereits eröffnungsreifen Haftsache weiterhin die notwendige Verfahrensbeschleunigung gewährleistet werden konnte. Die vermeidbare Gesamtverzögerung von knapp 14 Wochen ist auch erheblich, da das Verfahren in erster Instanz bei sonst gleichem Verfahrensgang deutlich vor Ablauf der Frist des § 121 Abs. 1 StPO mit einem Urteil hätte abgeschlossen werden können.

Einsender:

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".