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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 Ss 54/04 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Jugendgerichtsverfahren

Senat: 2

Gegenstand: Revision

Stichworte: Jugendrecht; Beiordnung als Pflichtverteidiger; Schwere der Tat, Unfähigkeit des Selbstverteidigung

Normen: JGG 68; StPO 140; StPO 267

Beschluss: Strafsache
gegen M.R.
wegen gefährlicher Körperverletzung

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten vom 21. Mai 2003 gegen das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 19. Mai 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 26. 04. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft einstimmig gem. § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 21. Mai 2003 wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückverwiesen.

Gründe:

I.
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Recklinghausen hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der form- und fristgerecht eingelegten Sprungrevision. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

II.
Das Rechtsmittel ist zulässig. Es hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - mit der formellen Rüge Erfolg. Der Angeklagte hat zu Recht einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend gemacht. Ihm hätte als Heranwachsendem vom Amtsgericht gemäß
§§ 68 Nr. 1, 109 JGG, 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen.

Im Jugendgerichtsverfahren ist dem Heranwachsenden gem. §§ 109 Abs. 1, 68 Nr. 1 JGG ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Bestellung auch für einen Erwachsenen geboten wäre. Darin sieht die allgemeine Meinung eine Verweisung auf die Vorschrift des § 140 StPO (vgl. zuletzt u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 14. Mai 2003, 3 Ss 1163/02, NJW 2004, 1338; Spahn StraFo 2004, 82, 83, jeweils mit weiteren Nachweisen; siehe auch Senat im Beschluss vom 9. Februar 2004, 2 Ss 21/04). Danach ist die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die „Schwere der Tat“, die sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung richtet, gebietet nach wohl überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der Auffassung der Literatur (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., 2004, § 140 Rn. 23 ff.; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 1232 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich dann, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist (so wohl auch OLG Hamm NJW 2004, 1338; siehe aus der Rechtsprechung des Senats u.a. NStZ-RR 1998, 243 = StraFo 1998, 164, 269). Dies gilt im Jugendrecht auf jeden Fall auch. Ob darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen vorliegen müssen (so wohl OLG Hamm NJW 2004, 1338) oder ob die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sogar schon immer dann erforderlich ist, wenn eine Jugendstrafe droht (so LG Gera StraFo 1998, 270 = StV 1999, 654; Spahn StraFo 2004, 82, 83; Burhoff, a.a.O., Rn. 1234 unter Hinweis auf LG Gera, a.a.O.), braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. Der Senat merkt insoweit nur an, dass manches für die zuletzt genannte Auffassung spricht, da - anders als im Erwachsenenrecht - Jugendstrafe immer im Mindestmaß von sechs Monaten verhängt werden muss und damit dem Jugendlichen, wenn Jugendstrafe droht, grundsätzlich eine schärfere Sanktion droht als einem Erwachsenen nach den §§ 40 ff. StGB. Andererseits werden durch das Aufstellen weiterer Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (so OLG Hamm, a.a.O.) die Anforderungen an die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Jugendstrafverfahren gegenüber denen im Erwachsenenrecht verschärft.

Die Frage kann vorliegend offen bleiben, weil das Amtsgericht neben der drohenden Freiheits-Jugendstrafe weitere Umstände hätte berücksichtigen müssen, die in Zusammenhang mit der Strafhöhe die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich machten. Der Senat hat schon mehrfach betont (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1998, 243 = StraFo 1998, 164, 269 und außerdem z.B. auch noch VRS 100, 307 = StV 2002, 237[ Ls.]), dass die Strafgrenze von einem Jahr keine starre Grenze ist, sondern auch sonstige Umstände zu berücksichtigen sind, die in Zusammenhang mit der verhängten und/oder drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Zwar ist das in der Rechtsprechung - für das Erwachsenenrecht - im Wesentlichen bisher entschieden worden für die Frage der Berücksichtigung eines aufgrund der nun zu verhängenden Strafe drohenden Widerrufs von Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. u.a. OLG Hamm VRS 100, 307 und die Nachweise bei Burhoff, a.a.O., Rn. 1233). Darüber hinaus sind aber auch schon andere Umstände anerkannt worden (vgl. Burhoff, a.a.O., Rn. 1233 und 1235). Dem schließt sich der Senat, insbesondere auch für das Jugendrecht an (vgl. auch den Beschluss des Senats vom 9. Februar 2004, 2 Ss 21/04; siehe auch OLG Brandenburg NStZ-RR 2002, 184). Denn gerade im Jugendrecht ist wegen der in der Regel geringeren Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten und seiner daher größeren Schutzbedürftigkeit eher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich als im Erwachsenenstrafverfahren.

Unter der demgemäss vorzunehmenden Berücksichtigung aller Umstände war daher vorliegend die Mitwirkung eins Pflichtverteidigers erforderlich. Abzustellen ist zunächst auf die drohende Freiheits- bzw. Jugendstrafe, die das Amtsgericht immerhin in Höhe von neun Monaten verhängt hat. Es handelt sich zudem um ein Verfahren, in dem die Staatsanwaltschaft Anklage beim Jugendschöffengericht erhoben und damit von vornherein zum Ausdruck gebracht hat, dass die Verhängung von Jugendstrafe zu erwarten ist (§§ 40 Abs. 1, 39 Abs. 1 JGG). Hinzu kommt, dass der Angeklagte sich zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung aufgrund des am 22. April 2003 gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassenen Haftbefehls seit dem 7. Mai 2003 in Untersuchungshaft befunden hat. Zwar hatte die Untersuchungshaft bei weitem nicht die Grenze des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erreicht, der Umstand, dass der Angeklagte sich vor dem Hauptverhandlungstermin in Untersuchungshaft befunden hat, kann jedoch wegen der dadurch weiter eingeschränkten Verteidigungsfähigkeit nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., 2004, § 140 Rn. 12 und 36 mit weiteren Nachweisen).

Übersehen werden darf auch nicht, dass die Sach- und Rechtslage zumindest nicht einfach war. Der Angeklagte war zur Tatzeit zwar schon 20 Jahre und sechs Monate alt, dennoch machten die im tatrichterlichen Urteil mitgeteilten besonderen Umstände in der Persönlichkeit des Angeklagten, eine sorgfältige Prüfung der Frage der Anwendung des Erwachsenenrechts erforderlich. Auch weist die Revision zu Recht daraufhin, dass der Tatrichter eine schwierige Beweiswürdigung vorzunehmen hatte, wobei die Problematik des Wiedererkennens von erheblicher Bedeutung war, nachdem der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung nicht mehr zur Sache eingelassen und der Geschädigte ihn nicht wiedererkannt hat.

Nach allem war somit die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers erforderlich. Da das Amtsgericht dessen Beiordnung unterlassen hat, ist das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft und musste aufgehoben werden.

III.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Ausführungen des Amtsgerichts zum Wiedererkennen des Angeklagten als Täter der Körperverletzung durch die Zeugin Weber unzureichend sind. Der Beweiserhebungsakt des Wiedererkennens ist für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar dargestellt worden. Zwar ist es grundsätzlich allein Aufgabe des Tatrichters, die von ihm erhobenen Beweise zu würdigen und sich auf dieser Grundlage seine Überzeugung von dem Bewiesen- bzw. Nichtbewiesensein einer Tatsache zu bilden. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen (BGH NStZ 1993, 501) und insbesondere besondere Umstände zu erörtern (Meyer-Goßner, a.a.O., § 261 StPO Rn. 11 mit weiteren Nachweisen). Das Revisionsgericht hat das Ergebnis der tatrichterlichen Würdigung, wenn es frei von Rechtsfehlern ist, hinzunehmen. Das muss das Revisionsgericht jedoch nur, wenn die objektive Grundlage, auf der die Gewissheit des Tatrichters beruht, ausreichend dargelegt ist (vgl. dazu zuletzt Senat im Beschluss vom 4. März 2004 in 2 Ss 30/04 und vom 19. April 2004 in 2 Ss 594/03).

Das ist vorliegend nicht der Fall. Das Amtsgericht hat zum eigentlichen Wiedererkennungsakt keinerlei konkrete Ausführungen gemacht, sondern zu den Angaben der Zeugin Weber lediglich ausgeführt, dass sie ausgesagt habe, dass sie den Angeklagten eindeutig als Mittäter wiedererkenne. Sie habe keinen Zweifel, dass der Angeklagte derjenige gewesen sei, der auf den Zeugen Wilms mit der Stahlrute eingeschlagen habe. Damit bleibt völlig offen, aufgrund welcher Umstände die Zeugin den Angeklagten in der Hauptverhandlung wiedererkannt haben will. Damit ist die objektive Grundlage, auf der das Amtsgericht zu seiner Überzeugung gelangt ist, der Angeklagte sei der Täter gewesen, nicht ersichtlich.


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