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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 474/02 OLG Hamm

Leitsatz: Die Frage, ob ein ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt werden kann, erfordert die Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände. Dabei kommt der Höhe einer inzwischen verhängten Strafe erhebliche Bedeutung zu, sie allein wird aber für die Wiederinvollzugsetzung nicht ausreichen.

Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Haftbeschwerde, Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls, Abwägung sämltihcer Umstände, Bedeutung der Höhe der Strafe

Normen: StPO 116

Beschluss: Strafsache
gegen R.Y.

wegen Vergewaltigung (hier: Haftbeschwerde).

Auf die (Haft-)Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der 7 großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 14. November 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 27. 12. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 14. November 2002 wird aufgehoben.

Gründe:
I.
Dem Angeklagten werden in diesem Verfahren mehrere Vergewaltigungstaten vorgeworfen. Das Amtsgericht Bochum erließ deshalb gegen ihn am 13. November 2001 wegen vier selbständiger Vergewaltigungen Haftbefehl. Die Staatsanwaltschaft Bochum erhob unter dem 30. August 2002 wegen sechs in der Zeit vom Februar 1997 bis August 2001 begangener Vergewaltigungen Anklage bei der großen Strafkammer. Diese hat die Anklage mit Beschluss vom 1. Oktober 2002 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung hat dann am 4., 6., 12. und 14. November 2002 stattgefunden. Die Strafkammer hat den Angeklagten am 14. November 2002 wegen vier Vergewaltigungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Ein Freispruch wegen der beiden übrigen Taten erfolgte nicht. Aus dem dem Senat nur vorliegenden Aktenauszug erschließt sich auch nicht, wie die Strafkammer mit diesen ggf. sonst verfahren ist. Der Angeklagte, der die Taten bestreitet, hat Revision gegen das Urteil der Strafkammer eingelegt.

Zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls befand sich der Angeklagte in Urlaub. Er ist nach Erlass des Haftbefehls sofort in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt, um sich den Polizeibehörden zu stellen. Bei seiner Einreise ist er nicht verhaftet worden. Er wollte sich anschließend dann den Ermittlungsbehörden stellen, wurde von diesen jedoch unter Angabe eines Vernehmungstermins wieder nach Hause geschickt. Noch bevor der Angeklagte zu diesem Termin erscheinen konnte, wurde er dann am 26. November 2001 festgenommen. Der Angeklagte befand sich zunächst bis zum 27. Dezember 2002 in Untersuchungshaft. An diesem Tag wurde er vom Amtsgericht Bochum unter Auflagen vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont.

Der Angeklagte hat an sämtlichen Hauptverhandlungsterminen teilgenommen. Die Strafkammer hat den Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 13. November 2001 erst wieder nach Verkündung des Urteils am 14. November 2002 in Vollzug gesetzt. Seitdem befindet sich der Angeklagte erneut in Untersuchungshaft.

Der Angeklagte ist in der Türkei geboren, lebt aber seit 30 Jahren in Witten. Er ist inzwischen deutscher Staatsangehöriger. Er ist zum zweiten Mal verheiratet. Das Besuchsrecht zu seinen Kindern aus der ersten Ehe nimmt er regelmäßig wahr. Seit 1995 ist der Angeklagte aus gesundheitlichen Gründen arbeitslos.

Die Haftbeschwerde des Angeklagten, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat, richtet sich gegen die Invollzugsetzung des Haftbefehls. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.

II.
1. Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 14. November 2002 war aufzuheben, da die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vorliegen und damit die Invollzugsetzung des Haftbefehls durch die Strafkammer nicht gerechtfertigt war.

a) Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kann ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl u.a. dann wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung des Beschuldigten erforderlich machen. In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass in diesem Zusammenhang dem Umstand, dass der Angeklagte zu einer höheren Strafe als von ihm erwartet verurteilt worden ist, erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. nur aus der Rechtsprechung der jüngeren Zeit OLG Koblenz StraFo 1999, 322, OLG Brandenburg StraFo 2001,32; OLG Düsseldorf StV 2002, 207, Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., 2003, § 116 Rn. 28 mit weiteren Nachweisen). Allerdings wird in der Regel allein die Höhe der erkannten Strafe für eine (Wieder-)Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht ausreichen (so wohl auch OLG Düsseldorf, a.a.O.; siehe auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 278). § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO dient nämlich dazu, eine Haftaussetzungsentscheidung dann wieder aufheben zu können, „wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen“. Ob das der Fall ist, erfordert nach Überzeugung des Senats aber - ebenso wie bei der Beurteilung der Frage, ob überhaupt Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gegeben ist (vgl. dazu u.a. Senat in NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203 = StV 2001, 115 mit insoweit zustimmender Anmerkung von Deckers), - die Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände. Ergibt diese Abwägung, dass die Gründe, die zum Erlass des Haftverschonungsbeschlusses geführt haben, in einem wesentlichen Punkt erschüttert worden sind, so dass deshalb der Haftrichter seine Aussetzungsentscheidung nicht getroffen hätte, ist der Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Anderenfalls verbleibt es bei der Aussetzungsentscheidung.

b) In dem Zusammenhang weist der Senat vorab darauf hin, dass sich der Haftentscheidung der Strafkammer vom 14. November 2002 in keiner Weise entnehmen lässt, ob die Strafkammer die erforderliche Abwägung überhaupt vorgenommen hat. Die Strafkammer hat ihre Entscheidung nämlich mit keinem Wort begründet. Der Senat verweist, um Wiederholungen zu vermeiden, auf seine Entscheidung vom 5. August 2002 im Verfahren
2 Ws 335/02 (inzwischen veröffentlicht in NStZ-RR 2002, 335), deren Ausführungen vorliegend sinngemäß gelten. Auch die Invollzugsetzungsentscheidung bedarf als Haftentscheidung einer zumindest kurzen Begründung, da anderenfalls der Angeklagte nicht erkennen kann, wogegen er sich insoweit zu verteidigen hat.

c) Die o.a. erforderliche Abwägung führt dazu, dass es bei der Aussetzungsentscheidung vom 27. Dezember 2001 zu verbleiben hat. Dabei übersieht der Senat nicht, dass der Angeklagte wegen vier Vergewaltigungen zu einer verhältnismäßig hohen Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden ist. Andererseits stand eine „hohe Straferwartung“ von Anfang an im Raum, da schon der Haftbefehl des Amtsgericht Bochum vom 13. November 2001 auf vier Vergewaltigungen, die dem Angeklagten vorgeworfen wurden, gestützt war. Dieser Umstand hat den Haftrichter nicht davon abgehalten, den Vollzug dieses Haftbefehls auszusetzen.

Erhebliches, gegen eine Invollzugsetzung sprechendes Gewicht haben bei der Abwägung die übrigen Umstände: Der Angeklagte lebt seit 30 Jahren in Deutschland und ist inzwischen deutscher Staatsangehöriger, wobei dahinstehen kann, ob er auch noch türkischer Staatsangehöriger ist, also ggf. nicht mit einer Auslieferung aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland rechnen müsste. Der Angeklagte ist verheiratet und verfügt auch darüber hinaus über soziale Bindungen.

Der Angeklagte hat sich selbst dem Verfahren gestellt. Er hat sich nach Außervollzugsetzung zudem fast ein ganzes Jahr für das Verfahren zur Verfügung gehalten und allen Ladungen pünktlich Folge geleistet (siehe dazu auch Senat in 2 Ws 34/02, http://www.burhoff.de). Die Strafkammer hat im Übrigen weder die Erhebung der Anklage, die dem Angeklagten sechs Taten vorgeworfen hat, noch die Eröffnung des Hauptverfahrens zum Anlass genommen, den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen.

Entscheidend ist in dem Zusammenhang jedoch, dass der Angeklagte auch noch an der Hauptverhandlung am 14. November 2002 teilgenommen hat, nachdem zuvor am 12. November 2002 die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag bereits die Verhängung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren beantragt hatte. Damit hatte sich das Risiko einer Bestrafung für den bestreitenden, aus seiner Sicht also einen Freispruch erwartenden, Angeklagten auf eine Strafe von fünf Jahren konkretisiert. Mit dieser Strafe musste der Angeklagte rechnen, als er am 14. November 2002 zur Urteilsverkündung in der Hauptverhandlung erschienen ist. Wenn die Strafkammer diesen (hohen) Strafantrag der Staatsanwaltschaft nicht zum Anlass genommen hat, bereits am 12. November 2002 die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten wieder anzuordnen, war das am 14. November 2002 allein wegen der dann um noch ein Jahr höher verhängten Freiheitsstrafe nicht (mehr) gerechtfertigt. Denn der Angeklagte hat gerade durch sein Erscheinen in Kenntnis der drohenden Strafe von fünf Jahren gezeigt, dass er sich dennoch für das Verfahren zur Verfügung halten will und hielt.

Nach allem führt somit die Abwägung sämtlicher, dem Senat erkennbarer Umstände dazu, dass die Gründe, die den Haftrichter zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls bewogen haben, nicht erschüttert worden sind, sondern weiter Bestand haben. Damit verbleibt es bei der Außervollzugsetzung des Haftbefehls.

Zur Klarstellung weist der Senat daraufhin, dass nach Aufhebung des Beschlusses der Strafkammer vom 14. November 2002 der Außervollzugsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Bochum vom 27. Dezember 2001 wieder in Kraft ist und die darin dem Angeklagten gemachten Auflagen fortgelten.


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