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RVG Entscheidungen

Allgemeine Gebühren-/Kostenfragen - Sonstiges

Einstellung des Verfahrens, Auslagenerstattung

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 02.12.2011 - 1 Ws 82/11

Leitsatz: 1. Die Bindung des Beschwerdegerichts an die tragenden Feststellungen gemäß § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO gilt auch für isolierte Kostenbeschlüsse und sonstige Kosten- und Auslagenentscheidungen. Das Fehlen der für die Kosten- und Auslagenentscheidung maßgeblichen Sachver-haltsfeststellungen führt regelmäßig zur Aufhebung der Auslagenentscheidung und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz.
2. Das Absehen von der Erstattung notwendiger Auslagen im Falle des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO setzt keine Schuldspruchreife voraus. Die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach dieser Norm sind bereits dann gegeben, wenn bei dem Eintritt des Verfahrenshindernisses ein erheblicher Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die im Falle einer Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen.
Die entgegenstehende Rechtsprechung des Kammerge-richts wird aufgegeben.

3. Das Beschwerdegericht ist nicht verpflichtet, sich auf Antrag des Beschwerdeführers zu erklären, ob es an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält.


KAMMERGERICHT

Beschluss


Geschäftsnummer:
1 Ws 82/11 - 2 AR 117/01__________
(519) 3 Wi B Js 745/01 KLs (02b/02)


In der Strafsache gegen


N.,
geboren am x in x,
wohnhaft in x,


wegen Betruges


hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin
am 2. Dezember 2011 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird die Auslagenentscheidung in dem Beschluss des Landgerichts Berlin vom 28. Juli 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung – auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen.

G r ü n d e :

Das Landgericht hat das Verfahren gegen den Angeklagten mit Beschluss vom 27. Juni 2006 von dem u. a. gegen den Mitange-klagten A. geführten Verfahren abgetrennt und entsprechend § 205 StPO vorläufig eingestellt. Mit Beschluss vom 28. Juli 2011 hat es das Verfahren gegen den Angeklagten wegen seiner dauernden Verhandlungsunfähigkeit schließlich nach § 206a Abs. 1 StPO eingestellt. Zugleich hat es die Kosten des Ver-fahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Landeskasse auferlegt. Zur Begründung hat die Strafkammer ausgeführt, sie könne einen fortdauernden hinreichenden Tatverdacht nicht feststellen. Ihre Besetzung habe sich geändert, so dass keines ihrer Mitglieder gegen den Angeklagten verhandelt und einen persönlichen Eindruck von ihm und den eingeführten Beweismitteln gewonnen habe. Auch könnten die Feststellungen des gegen den Mitangeklagten A. ergangenen Urteils nicht berücksichtigt werden, weil es durch den Bundesgerichtshof wegen eines prozessrechtswidrig verworfenen Ablehnungsgesuchs aufgehoben worden sei. Die gegen die Auslagenentscheidung gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

1. Die mit der angefochtenen Entscheidung getroffenen Fest-stellungen, an die der Senat nach § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO gebunden ist, sind unzureichend. Sie ermöglichen keine Prüfung, ob das Landgericht rechtsfehlerfrei davon abgesehen hat, den Angeklagten nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO mit seinen notwendigen Auslagen zu belasten.

a) Das Beschwerdegericht hat zwar grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden (§ 309 Abs. 2 StPO). Es ist zur umfas-senden Prüfung der angefochtenen Entscheidung unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet. An die tatsächlichen Feststellungen des unteren Gerichts ist es dabei nach allgemeinen Grundsätzen nicht gebunden. Es kann vielmehr zur Aufklärung des Sachverhalts ergänzende Ermittlungen anordnen oder selbst vornehmen (§ 308 Abs. 2 StPO). Es muss alle für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen prüfen und aufklären, auch soweit das bisher nicht geschehen ist (vgl. BGH NJW 1964, 2119). Die Sache an das erkennende Gericht zurückzuverweisen, kommt daher im Rahmen allgemeiner Grundsätze nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn die angefochtene Entscheidung entgegen der Vorgaben des § 34 StPO nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 23. Juni 2009 – 1 Ws 64/09 – bei juris) oder nur formelhaft mit Gründen versehen ist (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2011, 325; OLG Hamm, Beschluss vom 7. Juli 2011 – 1 Ws 247/11 – bei juris), wenn ein durch das Beschwerdegericht nicht heilbarer Verfahrensfehler vorliegt (vgl. BGH NStZ 1992, 508), wenn die angefochtene Entscheidung nicht von dem gesetzlich vorgesehenen Spruchkörper getroffen worden ist (vgl. BGH NJW 1992, 2775) oder wenn eine den Sachverhalt ausschöpfende erstinstanzliche Entscheidung zur Sache selbst fehlt (vgl. OLG Frankfurt NStZ 1983, 426: fehlerhafte Zurückweisung eines Wiederaufnahmegesuchs als unzulässig).

b) Etwas anderes gilt jedoch für Beschwerden, die sich gegen die Entscheidung über Kosten und Auslagen richten. Nach § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO ist das Beschwerdegericht hier an die tatsächlichen Feststellungen, auf denen die angefochtene Entscheidung beruht, gebunden. Die Grundsätze der Verfahrensbeschleunigung und der Prozessökonomie verlangen, dass die Feststellungen nicht allein wegen der Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung erneut in Frage gestellt werden (vgl. Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 464 Rdn. 60). Dies gilt auch für diejenigen Feststellungen, die nur für die Kosten- und Auslagenentscheidung erheblich sind (vgl. BGHSt 26, 29; OLG Karlsruhe MDR 1977, 1041; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 60). Die Bindungswirkung ist dabei nicht auf jene Fälle be-schränkt, bei denen gegen die Hauptsacheentscheidung ledig-lich das Rechtsmittel der Revision gegeben ist und das Rechtsmittelgericht ohnehin an die die Hauptsacheentscheidung tragenden tatsächlichen Feststellungen gebunden ist. Eine vom Wortlaut des § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO ausgehende und auf Einheitlichkeit des besonderen Beschwerderechtsmittels zielende Auslegung legt es nahe, die Bindungswirkung auch auf jene Fälle zu er-strecken, bei denen die Hauptsacheentscheidung (auch) mit der Berufung angefochten werden kann (vgl. BGHSt 26, 29). Aus diesen Gründen ist eine umfassende Bindung an die tragenden Feststellungen schließlich auch bei isolierten Kostenbeschlüssen und sonstigen Kosten- und Auslagenentscheidungen anzunehmen. Denn auch hier spricht das Interesse an der Verfahrensbeschleunigung gegen eine erneute Überprüfung der tatsächlichen Ent-scheidungsgrundlagen (vgl. Hilger in Löwe-Rosenberg aaO § 464 Rdn. 60). Auch hier sind Feststellungen durch das Tatge-richt in aller Regel besser, effizienter und ressourcensparender zu treffen als durch das Be-schwerdegericht. Hinzu kommt, dass gerade in den Fällen, in denen eine Hauptverhandlung zumindest teilweise stattgefun-den hat, das Tatgericht aufgrund der größeren Sachnähe (vgl. OLG Koblenz NStZ-RR 1997, 206) und der hier vertypt unterschiedlichen Qualität der verfügbaren Ermittlungs- und Beurteilungsmöglichkeiten, insbesondere der strengbeweislichen Erhebungen (vgl. Hanseatisches OLG ZfS 2007, 409), über einen zuverlässigeren Eindruck von dem relevanten Geschehen verfügt als das Beschwerdegericht, das sich nur auf den Akteninhalt stützen kann. Die strukturelle Überlegenheit der tatrichterlichen Erkenntnismöglichkeiten (vgl. Hanseatisches OLG aaO) bezieht sich dabei nicht nur auf den unmittelbaren Eindruck, den das erkennende Gericht von dem Angeklagten gewinnt, sondern auch auf Beweismittel, insbesondere Zeugen, deren Bekundungen vor dem Landgericht nicht und in Verfahren vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht nur im wesentlichen Ergebnis protokolliert werden (§ 273 Abs. 2 Satz 1 StPO) und damit der Kenntnis und Beurteilung durch das Beschwerdegericht entzogen sein kön-nen.

c) Dass dagegen im vorliegenden Fall die Mitglieder der für die Entscheidung über die Verfahrenseinstellung zuständigen Strafkammer gegen den Angeklagten nicht verhandelt hatten und daher einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von diesem und den in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismitteln nicht haben konnten, gebietet keine abweichende Beurteilung und befreite sie nicht von dem Erfordernis, die für die nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO vorgesehene Ermessensentscheidung erforderlichen Feststellungen zu treffen. Die Bindungswirkung auf die Fälle zu beschränken, bei denen das über die Kosten- und Auslagen entscheidende Gericht in zumindest teilidentischer Besetzung bereits in selber Sache verhandelt hat, entspräche weder dem Wortlaut des § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO noch der durch den Bundesgerichtshof geforderten auf Einheitlichkeit des besonderen Beschwerderechtsmittels zielenden Auslegung dieser Vorschrift (vgl. BGHSt 26, 29).

2. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zu neuer Entscheidung zurückzuverwei-sen.
a) Da es dem Beschwerdegericht in Kostensachen grundsätzlich verwehrt ist, seine eigenen tatsächlichen Feststellungen an die Stelle derjenigen der angefochtenen Entscheidung zu setzen (vgl. Hilger in Löwe-Rosenberg aaO § 464 Rdn. 63), führt das Fehlen der für die Kosten- und Auslagenentscheidung maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen regelmäßig zur Aufhebung der Auslagenentscheidung und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz (vgl. BGHSt 26, 29; OLG Celle MDR 1973, 604; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 60). Die angefochtene Entscheidung enthält in Bezug auf die Voraussetzungen des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO, insbesondere die Stärke des gegen den Angeklagten fortbestehenden Tatverdachts, keine tatsächlichen Fest-stellungen. Daher bleibt ohne Belang, dass bereits die rechtlichen Ausführungen der angefochtenen Entscheidung dem Begründungsobersatz, der Angeklagte sei „nur deshalb nicht verurteilt worden, weil ein Verfahrenshindernis besteht“, widersprechen.

b) Der Senat teilt nicht die Auffassung der Strafkammer, sie verfüge für die nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO erforderliche Entscheidung über keine hinreichende Tatsachengrundlage, weil die Gründe des gegen den früheren Mitangeklagten A. ergangenen Urteils einer für den Beschwer-degegner nachteiligen Bewertung verschlossen seien. Zwar haben ausweislich des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 2. April 2008 an dem Urteil Richter mitgewirkt, die das gegen sie gerichtete Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit zu Unrecht als unzulässig verworfen haben (§ 338 Nr. 3 StPO). Das Urteil ist daher mit den Feststellungen aufgehoben worden. Die Aufhebungsentscheidung enthält jedoch keinen Hinweis auf die materielle Unrichtigkeit des Urteils. Das Urteil wurde nämlich nicht aufgehoben, weil das Gericht befangen war oder einen derartigen Anschein erweckt hatte, sondern weil es ein Befangenheitsgesuch – kurz nach der zu diesem Themenkreis ergangenen Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, aber vor dessen Veröffentlichung in Fachzeitschriften (vgl. z.B. NJW 2005, 3410 [November 2005]) – prozessrechtswidrig als unzulässig zurückgewiesen hatte. In den nicht tragenden Ausführungen zur Sachrüge bestätigt der Bundesgerichtshof sogar ausdrücklich die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils, der zufolge der Mitangeklagte A. in dem Zivilprozess der E. Gesellschaft gegen die Nießbrauch ausübenden „Thesaurus“-Gesellschaften mit Täuschungswillen unwahr vorgetragen hat. Es kann dahinstehen, ob sich die Befangenheit des Gerichts auf die Verwertbarkeit des Urteils für die hier nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO vorzunehmende Prüfung auswirken könnte. Denn indem der Bundesgerichtshof die Beweiswürdigung des Urteils in Bezug auf die Gewinnberechnung und damit auf jenen Punkt bestätigt, der Grundlage des Ablehnungsgesuchs war, wird deutlich, dass er das Ablehnungsgesuch zwar für zulässig, aber nicht für begründet erachtete. Die Feststellungen des Urteils haben daher auch Bedeutung für die Beurteilung des den Fall 2 der gegen Beschwerdegegner erhobenen Anklage betreffenden Tatverdachts.

c) Der Grundsatz, dass es dem Beschwerdegericht in Kostensa-chen grundsätzlich verwehrt ist, seine eigenen tatsächlichen Feststellungen an die Stelle derjenigen der angefochtenen Entscheidung zu setzen, erfährt eine Einschränkung, wenn die Sache tatsächlich einfach ist und sich die maßgeblichen Tatsachen zweifelsfrei den Akten entnehmen lassen. In diesem Fall kann das Beschwerdegericht selbst entscheiden (vgl. Senat, Beschluss vom 23. Juni 2009 – 1 Ws 64/09 – bei juris; BGHSt 26, 29; KG NStZ 1999, 223; OLG Frankfurt NJW 1981, 2481; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 60; Hilger in Löwe/Rosenberg aaO § 464 Rdn. 63 m. w. N. [Fn. 170]). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier ersichtlich nicht vor.

3. Für die anstehende Entscheidung des Landgerichts weist der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Kammergerichts für Kostensachen zuständige Senat darauf hin, dass er an der einschränkenden Auslegung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht festhält, nach der eine für den Angeklagten nachteilige Auslagenentscheidung Schuldspruchreife voraussetzt.

a) Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. NStZ 1987, 421; 1988, 84) hat es das Kammergericht mit der zunächst herrschenden Meinung (vgl. BGH NStZ 1995, 406; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 288; OLG Hamm NJW 1986, 734; NStZ-RR 1997, 127; OLG München NStZ 1989, 134; Hilger in Löwe/Rosenberg aaO § 467 Rdn. 54) für erforderlich gehalten, den Anwendungsbereich des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO auf jene Fälle zu beschränken, in denen bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses eine Verurteilung wegen der bereits bis zur Schuldspruchreife durchgeführten Hauptverhandlung mit Sicherheit zu erwarten gewesen wäre (vgl. NJW 1994, 600 („Honecker“); NJ 1999, 494; Beschlüsse vom 7. August 2000 – 4 Ss 110/00 – und vom 20. Mai 1997 – 3 Ws 232/97 – jeweils bei juris; Beschluss vom 18. Februar 1993 – 3 Ws 22/93 -). Hiernach kam die Vorschrift nur zur Anwendung, wenn bereits ein erstinstanzliches Urteil vorlag (vgl. Senat NStZ-RR 2008, 295) oder die Hauptverhandlung vollständig durchgeführt war, der Angeklagte also bereits das letzte Wort gehabt hatte. Lediglich in zwei Entscheidungen weiteten der 3. bzw. der 5. Strafsenat des Kammergerichts den Anwendungsbereich des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO für einfach gelagerte Schuldvorwürfe auf Fälle aus, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Schuld des Be-schuldigten spricht, sofern sich die maßgeblichen Tatsachen dem Akteninhalt ohne Klärung in einer Hauptverhandlung zwei-felsfrei entnehmen lassen (3. Strafsenat, Beschluss vom 18. Februar 1993 - 3 Ws 22/93 –) oder ein Geständnis des Beschuldigten vorliegt (5. Strafsenat, Beschluss vom 14. Januar 1998 – 5 Ws 11/98 – bei juris). Der Bundesgerichtshof rückte mit seiner Grundsatzentscheidung vom 5. November 1999 (NStZ 2000, 330) von der bis dahin herrschenden restriktiven Auffassung ab und erweiterte den Anwendungsbereich des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO auf jene Fälle, bei denen nach weitgehender Durchführung der Hauptverhandlung ein auf die bisherige Beweisaufnahme gestützter erheblicher Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die bei einer neuen Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen würden. Dies ist nun – mit unterschiedlichen Nuancen – herrschende Meinung (vgl. für viele: OLG Hamm NStZ-RR 2010, 224; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 246). Das Kammergericht hat hiergegen zunächst an seiner einschränkenden Auslegung der Vorschrift und dem Erfordernis der Schuldspruchreife festgehalten (vgl. StraFo 2005, 483); der Senat hat die Frage zuletzt offen gelassen (vgl. NStZ-RR 2008, 295; Beschlüsse vom 11. Januar 2008 – 1 Ws 286/07 – bei juris, vom 27. Juli 2011 – 1 Ws 41/11 – und vom 19. Sep-tember 2011 – 1 Ws 66/11 -).

b) Die bisher durch das Kammergericht vertretene Auffassung verengt den Anwendungsbereich des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO, ohne dass dies durch die Unschuldsvermutung, den Wort-laut der Vorschrift oder ihre Entstehungsgeschichte veranlasst wäre. Auch die Deutung nach Sinn und Zweck der Norm erfordert diese restriktive Auslegung nicht.

aa) Die Unschuldsvermutung, die als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang hat (vgl. BVerfG StV 2008, 368), muss in einem prozessordnungsgemäßen Verfah-ren widerlegt werden, bevor wegen eines Tatvorwurfs Entscheidungen getroffen werden, die die Feststellung von Schuld erfordern. Sie schützt den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches, prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist (vgl. BVerfG NJW 2004, 2073). Sie schließt jedoch nicht aus, bereits in der Schuldspruchreife vorausgehenden Verfahrensabschnitten wegen fortbestehender Verdachtserwägungen eine Auslagenentscheidung nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO zu treffen und in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Ent-scheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG NJW 1992, 1612).

bb) Zwar steht der Umstand, dass § 467 Abs. 3 StPO von dem Angeschuldigten, gegen den nach der Begriffsbestimmung des § 157 StPO Schuldspruchreife gar nicht bestehen kann, und nicht von dem Angeklagten spricht, dem Erfordernis der Schuldspruchreife nicht entgegen. Denn § 467 Abs. 1 StPO regelt u. a. die Kostenfolge des Falls, dass der „Angeschuldigte freigesprochen“ wird. Gemeint ist hier wie dort also auch der Angeklagte. Der Wortlaut des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO gibt jedoch auch keinen positiven Hinweis auf das Erfordernis der Schuldspruchreife (vgl. BGH NStZ 2000, 330). Jedenfalls hat der Gesetzgeber diese Bedingung, was nahe gelegen hätte, nicht in den Gesetzestext aufgenom-men.

cc) Auch die historische Auslegung gebietet die Restriktion nicht. Zwar wurde die Ausnahmeregelung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses eingeführt (Bundestagsdrucks. V/28980). Dabei wurde insbesondere an Fälle gedacht, in denen bei der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen der Mordvorwurf in der Hauptverhandlung nicht zu beweisen, der erwiesene Totschlag jedoch verjährt war (vgl. zur Entstehungsgeschichte BT-Drucks. V/2600; V/2601, Seite 19, 21; Zusammenfassung bei Hilger in Löwe/Rosenberg aaO § 467 Rdn. 50 f. und BVerfG NStZ 1993, 195). Dies spricht jedoch nicht für die einschränkende Auslegung. Denn dass eine Verurteilung wegen Mordes aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ausgeschlossen war, konnte in einem Strafverfahren bereits zu einem Zeitpunkt offenbar werden, als die für eine (hypothetische) Verurteilung wegen des verjährten Totschlagsverbrechens erforderlichen Beweise noch nicht erhoben waren. In diesem Fall wäre das Verfahren wegen Verjährung einzustellen, und die Auslagenentscheidung nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO wäre mangels Schuldspruchreife ausgeschlossen gewesen. Die Entstehungsgeschichte der Norm spricht mithin eher dafür, dass auch diese Konstellation, bei der ein deliktsbezogenes Verfahrenshindernis der weiteren Verhandlung bis zur Schuldspruchreife entgegensteht, von der Vorschrift erfasst sein soll. Die Folgerung, der Gesetzeszweck werde unterlaufen, wenn bereits bei fortbestehendem Tatverdacht von der Überbürdung der not-wendigen Auslagen auf die Staatskasse abgesehen werden könnte, verbietet sich jedenfalls.

dd) Auch die Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Norm gebietet die Einschränkung des Geltungsbereichs nicht. Bei der Beschränkung auf Fälle der Schuldspruchreife hätte § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO vielmehr einen unangemessen engen Anwendungsbereich. Er wäre begrenzt auf Fälle, bei denen während der Urteilsberatung ein Verfahrenshindernis zutage tritt oder bereits ein erstinstanzliches Urteil vorliegt (vgl. BGH NStZ 2000, 330). Bei Verfahrenseinstellungen außerhalb der Hauptverhandlung käme Schuldspruchreife nicht in Betracht (vgl. BGH aaO). Ein entsprechender gesetzgeberischer Wille ist nicht erkennbar (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2001, 126).

c) Der Senat ist in Anlehnung an die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (NStZ 2000, 330) der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO bereits dann gegeben sind, wenn bei dem Eintritt des Verfahrenshindernisses ein erheblicher Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die im Falle einer Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen. Weder der Wortlaut des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO noch der Gesetzeszweck lassen es dabei als erforderlich erscheinen, dass gegen den Beschuldigten bereits verhandelt wurde. Erforderlich sind vielmehr gewichtige tatsächliche Erkenntnisse, welche frei von einer gerichtlichen Schuldfeststellung oder –zuweisung (vgl. BVerfG NJW 1992, 1612; BVerfGE 82, 106) die zuverlässige Annahme erlauben, dass der Beschuldigte verurteilt worden wäre, wenn das Verfahrenshindernis nicht bestünde. Diese Voraussetzungen können grundsätzlich bereits durch das in die Anklageerhebung mündende Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erfüllt sein, wenn der hierdurch begründete Tatverdacht erheblich ist und tatsächlich oder rechtlich entlastende Umstände, welche die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen könnten, nicht ersichtlich sind.
4. Den durch den Verteidiger beantragten Hinweis zu geben, „ob der Senat in die Sachprüfung eintreten will oder an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält“, bestand kein Anlass. Der Antrag des Verteidigers, der bereits unbeschränkte Akteneinsicht hatte, zielte darauf, gegebenenfalls erneut Akteneinsicht zu nehmen und sodann ergänzend vorzutragen. Abgesehen davon, dass der Senat wegen der Bindungswirkung des § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO in der Sache selbst nicht entschieden hat, besteht für das Hinweisbegehren auch keine Rechtsgrundlage. Eine derartige Hinweispflicht ergibt sich weder aus einer entsprechenden Anwendung des § 265 StPO noch aus der prozessualen Fürsorgepflicht. Eine Hinweis- oder Bescheidungspflicht hätte zur Folge, dass die Verteidigung eine Art Zwischenverfahren veranlassen (vgl. BGHSt 43, 212 für die Hauptverhandlung) und den Senat zu Vor- und Zwischenberatungen verpflichten könnte. Beides ist durch das Prozessrecht nicht vorgesehen. Vielmehr obliegt gegebenenfalls dem Verteidiger, alles vorzutragen, was seinem Begehren dienlich sein könnte (vgl. OLG Rostock, Be-schluss vom 23. Juli 2010 – 1 Ws 384/09 – bei juris [Antrag nach § 51 RVG]).


Einsender: RiKG Klaus-Peter Hanschke, Berlin

Anmerkung:


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