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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Betreuung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 06.10.2022 - 511 Qs 79/22

Eigener Leitsatz: 1. Bereits die Anordnung der Betreuung allein kann einen Fall einer notwendigen Verteidigung begründen. Jedenfalls liegt aber im Falle eines geistigen Gebrechens dann ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn auf Grund des Grades der Behinderung die Möglichkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, gerade nicht vorliegt.
2. Die Regelung in § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO gilt nur für die Fälle der vom Amts wegen vorzunehmenden Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO.
3. Im Hinblick auf die Intention des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung ist nunmehr eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers veranlasst, sofern der Bestellungsantrag rechtzeitig gestellt und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt ist.


Beschluss
511 Qs 79/22

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger
Malik Bair, Chausseestraße 51 b, 10115 Berlin,

wegen Körperverletzung

hat die 11. allgemeine große Strafkammer des Landgerichts Berlin am 6. Oktober 2022 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 25. August 2022 aufgehoben.

Ihm wird rückwirkend Rechtsanwalt pp. Chausseestraße 51b, 10115 Berlin zum Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem vormaligen Beschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

Gegen den vormaligen Beschuldigten (in der Folge: Beschwerdeführer) wurde bei der Amtsanwaltschaft Berlin ein Verfahren wegen Körperverletzung geführt. Dem Beschwerdeführer wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Schöneberg vom 26. Mai 2021 — 56 XVII D 42/21 — pp. zum Berufsbetreuer bestellt. Dabei wurde diesem unter anderem auch die Vertretung des Beschwerdeführers vor Behörden, Gerichten und Sozialleistungsträgern übertragen. Der Beschwerdeführer selbst leidet ausweislich des psychiatrischen Gutachtens von Dr. pp. om 27. März 2021 unter einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis (ICD — 10; F20.0) und ist deshalb nicht in der Lage, seine Angelegenheiten alleine zu bewältigen. Psychopathologisch steht ausweislich des Gutachtens ein sprunghaft-zerfahrener formaler Gedankenablauf, ein paranoider Verfolgungswahn mit einer Vielzahl von Wahnideen und Leibeshalluzinationen, eine geminderte Konzentrations- und Auffassungsfähigkeit und eine deutliche Affektlabilität im Vordergrund. Dabei ist der Realitätsbezug des Beschwerdeführers eingeschränkt. Zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung befand sich der Beschwerdeführer zudem in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Anhaltspunkte, dass sich dies zwischenzeitlich geändert hat, bestehen nicht.

Mit Schreiben vom 13. Juni 2022 übersandte die ermittelnde Polizeidienststelle dem Beschwerdeführer über seinen Betreuer einen Anhörungsbogen als Beschuldigter im hiesigen Verfahren und belehrte ihn zugleich über die Möglichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Mit Schreiben vom 17. Juni 2022 beantragte Rechtsanwalt pp. namens und Vollmacht des Beschwerdeführers seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und verwies dabei auf die rechtliche Betreuung des Beschwerdeführers. Mit Schriftsatz vom 9. August 2022 erinnerte er an seinen Antrag. Die zuständige Amtsanwältin, der das Verfahren durch die Polizei am 12. August 2022 erstmals übersandt worden war, kündigte in einem Vermerk vom 19. August 2022 an, das Verfahren mangels Strafantrag und mangels besonderem öffentlichen Interesse ohne weitere Ermittlungen gemäß § 170 Abs. 2 StPO einstellen zu wollen.

Mit Beschluss vom 25. August 2022 lehnte das Amtsgericht Tiergarten — 349 Gs 2838/22 — auf entsprechenden Antrag der Amtsanwaltschaft Berlin die Bestellung von Rechtsanwalt Bair als Pflichtverteidiger ab. Zur Begründung verwies es unter Hinweis auf den Vermerk der Amtsanwältin auf § 141 Abs. 2 S. 3 StPO.

Mit Verfügung vom 31. August 2022 hat die Amtsanwaltschaft Berlin das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Mit Schreiben vom 3. September 2022, eingegangen am gleichen Tag, legte Rechtsanwalt pp. namens und in Vollmacht des Betreuers des Beschwerdeführers sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten ein und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass § 141 Abs. 2 S. 3 StPO nicht auf den vorliegenden Fall des § 141 Abs. 1 StPO anwendbar sei. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses zu verwerfen.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig (dazu siehe 1.) und begründet (dazu siehe 2.).

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 25. August 2022 wurde dem Betreuer des Beschwerdeführers am 2. September 2022 zugestellt. Die sofortige Beschwerde ging am 3. September 2022, mithin binnen der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO, ein.

2. Die Beschwerde ist auch begründet, da zum Zeitpunkt der Antragsstellung die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung vorlagen (dazu siehe a.) und zudem auch eine rückwirkende Bestellung vorzunehmen war (dazu siehe b.).

a) Zum Zeitpunkt der Antragsstellung lagen die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung vor.

Gemäß § 141 Abs. 1 StPO ist einem Beschuldigten auf seinen Antrag hin unverzüglich ein Pflichtverteidiger beizuordnen, sofern er dies beantragt, ein Fall einer notwendigen Verteidigung vorliegt und dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet worden ist.

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Dem Beschwerdeführer wurde mit Schreiben vom 13. Juni 2022 durch die ermittelnden Polizeidienststelle der Tatvorwurf eröffnet, zugleich wurde ihm die Möglichkeit gegeben, sich zu dem Vorwurf zu äußern. Mit E-Mail vom 17. Juni 2022 beantragte der Berufsbetreuer Rechtsanwalt pp. namens und in Vollmacht des Berufsbetreuers seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.

Es lag auch ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.

Der Beschwerdeführer steht ausweislich des Beschlusses des Amtsgerichts Schöneberg vom 26. Mai 2022 auf Grund einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis unter Berufsbetreuung, die auch die Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialleistungsträgern umfasst. Bereits die Anordnung der Betreuung allein kann einen Fall einer notwendigen Verteidigung begründen (so LG Berlin, Beschluss vom 19. September 2018, 502 Qs 102/18 = BeckRS 2018, 39322, Meyer-Goßner / Schmitt, Strafprozessordnung, 64. Auflage, § 140 Rn. 30). Jedenfalls liegt aber im Falle eines geistigen Gebrechens dann ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn auf Grund des Grades der Behinderung die Möglichkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, gerade nicht vorliegt (vgl. KG, Beschluss vom 31. März 2013, 3 Ws 49/13 = BeckRS 2016, 18578). Ausweislich des psychiatrischen Gutachtens betreffend den Beschwerdeführer ist dies der Fall. Er leidet an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis und befindet sich in einem die freien Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit, welche insbesondere mit einem Realitätsverlust und Wahnvorstellungen einhergeht. Das in einem solchen Fall die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, nicht mehr vorliegt, ist offenbar.

Auch konnte von der Beiordnung entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Tiergarten nicht gemäß § 141 Abs. 2 S. 3 StPO abgesehen werden. Bereits aus dem Wortlaut und der Gesetzessystematik ergibt sich, dass diese Regelung nur auf die Fälle der vom Amts wegen vorzunehmenden Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 StPO anzuwenden ist (vgl. LG Mannheim, Beschluss vom 26. März 2020 — 7 Qs 11/20). Der Gesetzgeber hat sich bewusst gegen eine Ausweitung der Regelung auch auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ausgesprochen.

b) Dem Beschwerdeführer war damit Rechtsanwalt pp. rückwirkend als Pflichtverteidiger zu bestellen. Hieran ändert auch die zwischenzeitliche Einstellung des Verfahrens durch die Amtsanwaltschaft Berlin nichts.

Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrunde liegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Rückwirkungsverbotes, wie es bis dahin vorherrschende Meinung war, (vgl. zum Streitstand Willnow in Karlsruher Kommentar 8 Auflage 2019, § 141 RN 12), nicht mehr tragfähig (vgl. OLG Nürnberg Beschluss v. 6. November 2020 — Ws- 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193 Rn. 25, beck-online, OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021, 1 Ws 260/21, LG Mannheim, Beschluss vom 26. März 2020 — 7 Qs 11/20, entgegen OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 Ws 112/20 = StraFo 2020, 486; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020 - 1 Ws 120/20 = NStZ 2021, 253 = OLGSt StPO § 140 Nr 42; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02. März 2021 - 1 Ws 12/21).

Nach den bis 2019 geltenden Regelungen diente die Pflichtverteidigerbeiordnung der in der Zukunft liegenden ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens und nicht den Kosteninteressen des Mandanten. Ersteres aber konnte durch eine rückwirkende Beiordnung gar nicht mehr hergestellt werden, weshalb sie grundsätzlich abzulehnen war (vgl. zur alten Rechtslage Willnow a.a.0).

Im Hinblick auf die Intention des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. BT-Drs. 19/13829 sowie BT-Drs. 19/15151) ist nunmehr aber eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers veranlasst, sofern — wie im vorliegenden Fall — der Antrag rechtzeitig gestellt und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt ist. Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU ("PKH-Richtlinie") regelt, dass die Mitgliedstaaten sicher zu stellen haben, dass Beschuldigte Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dieses Interesse der Rechtspflege hat der deutsche Gesetzgeber durch seine Regelungen in §§ 140, 141 StPO definiert. Diese Voraussetzung liegt wie dargelegt vor.

Mit „Prozesskostenhilfe" im Sinne der Richtlinie wird hierbei die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann (Art. 3 und 4 der RL 2016/1919/EU). Damit regelt die Richtlinie aber auch die Sicherung der Bezahlung des Rechtsbeistandes. Zweck und Ziel dieser Regelung ist mithin eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Diese würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so auch Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 64. Auflage., § 142 Rn. 20). Dies zeigt sich auch am vorliegenden Fall. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten über den Beiordnungsantrag war das Verfahren durch die Amtsanwaltschaft noch nicht eingestellt worden, so dass das Amtsgericht Tiergarten die Beiordnung entsprechend der obigen Feststellungen hätte aussprechen müssen. Nach Erlass des Beschlusses, aber vor Eingang der sofortigen Beschwerde, wurde das Verfahren sodann gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Wäre man der Ansicht, dass nach Beendigung des Verfahrens eine rückwirkende Beiordnung nicht mehr möglich wäre, hätten es die Strafverfolgungsbehörden in der Hand, die jeweils ursprünglich begründeten Anträge durch unmittelbare Einstellungsentscheidung vor Weiterleitung des Antrages zur Unbegründetheit zu verhelfen, obwohl gerade diese Strafverfolgungsbehörden den Antrag entgegen der gesetzlichen Regelungen nicht unverzüglich weitergeleitet haben. Im Übrigen würde diese Auffassung letztlich dazu führen, dass die Regelung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO entgegen der gesetzgeberischen Intention doch noch auf Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ausgeweitet werden würde.

Die ermittelnde Polizeidienststelle hat den Antrag vom 17. Juni 2022 auf Pflichtverteidigerbeiordnung nicht, wie es das Gesetz verlangt, unverzüglich an die Amtsanwaltschaft weitergeleitet, sondern zunächst die Ermittlungen abgeschlossen und dann nach Fertigung des Schlussberichts an die Amtsanwaltschaft übersandt, wo der Vorgang am 12. August 2022, mithin knapp 2 Monate nach Stellung des Antrages, einging. Der Verteidiger des Beschwerdeführers hat mit Schriftsatz vom 9. August 2022 nochmals an seinen Beiordnungsantrag erinnert, dessen Nichtbescheidung hat er somit nicht zu vertreten, sondern beruht allein auf justizinternen Vorgängen. Somit liegen vorliegend auch die Voraussetzungen für eine rückwirkende Beiordnung vor, so dass dem Antrag stattzugeben war.

3.

Die Kosten der Beschwerdeverfahren trägt die Landeskasse Berlin, weil kein anderer für sie haftet (vgl. BGHSt 14, 391; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 65. Aufl., § 464 Rn. 2, § 473 Rn. 2); die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers, die hier zu treffen war (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 464 Rn. 11a mwN), beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO (vgl. LR-Hilger, StPO 26. Aufl., § 473 Rn. 14).


Einsender: RA M. Bair, Berlin

Anmerkung:


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