Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Konstanz, Beschl. v. 10.09.2022 - 3 Qs 68/22

Eigener Leitsatz: Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt, ist für den Fall anzunehmen, dass der Antrag auf Beiordnung bereits rechtzeitig vor Verfahrensabschluss gestellt wurde, die Voraussetzungen für die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat.


3 Qs 68/22

Landgericht Konstanz

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln
hier: sofortige Beschwerde des Angeklagten

hat das Landgericht Konstanz - 3. Große Strafkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 19. September 2022 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten pp. wird der Beschluss des Amtsgerichts Singen vom 21.06.2022 aufgehoben.
Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

Gegen den Beschuldigten erließ das Amtsgericht Singen am 07.03.2022 einen Strafbefehl über 30 Tagessätze zu je 15,00 Euro wegen des Vorwurfs der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln. Zugleich verhängte es wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 42a Abs. 1 Nr. 3 WaffG eine Geldbuße in Höhe von 500,00 Euro. Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, am 26.12.2021 gegen 09.40 Uhr ohne betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis aus der Schweiz kommend 6,83 Gramm CBD-Marihuana-Tabak-Gemisch in das Gebiet der Bundesrepublik eingeführt zu haben.

Gegen diesen Strafbefehl legte der Beschuldigte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 22.03.2022 Einspruch ein. Nachdem das Amtsgericht Termin zur Hauptverhandlung auf den 18.08.2022 bestimmt hatte, beantragte der Beschuldigte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 05.05.2022 dessen Beiordnung als Pflichtverteidiger. Zur Begründung wird ausgeführt, dass bei dem Beschuldigten eine schwere Polytoxikomanie, Heroinabhängigkeit und eine schwere kombinierte Persönlichkeitsstörung bestehe. Im Hinblick auf zwei beim Amtsgericht Regensburg. anhängige Strafverfahren regte der Verteidiger zudem die (vorläufige) Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO an. Mit Beschluss vom 16.05.2022 stellte das Amtsgericht der Anregung des Verteidigers folgend das Verfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft vorläufig nach § 154 Abs. 2 StPO ein (AS 89). Über den gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers entschied das Amtsgericht zunächst nicht. Mit Schriftsatz vom 07.06.2022 teilte der Verteidiger mit, dass sich der Beschuldigte seit 11.05.2022 in einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Regensburg (404 Js 13536/22) in Untersuchungshaft befindet. Mit dem angefochtenen Beschluss lehnte das Amtsgericht den Antrag des Beschuldigten, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, ab. Zur Begründung führt das Amtsgericht im Wesentlichen aus, dass ein Fall einer notwendigen Verteidigung nicht mehr bestehe, nachdem das Verfahren nach § 154 StPO eingestellt worden sei.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die form - und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Beschuldigten. mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 07.07.2022, die mit weiteren Schriftsätzen vom 28.07.2022 und vom 14.09.2022 näher begründet wurde. Er macht geltend, dass im Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO zweifellos vorgelegen hätten. Zum Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung sei die Entscheidung über den gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers entscheidungsreif gewesen. Die Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung beruhe auf euoparechtlichen Vorgaben zur Prozesskostenhilfe im Strafverfahren. Die Entscheidung über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung im Zusammenhang mit einer Einstellung des Verfahrens spiele daher im Hinblick auf einen etwaigen Vergütungsanspruch des Verteidigers gegen die Staatskasse nur eine untergeordnete Rolle. Sinn und Zweck der Pflichtverteidigerbestellung bei Sachbehandlungen nach § 154 Abs. 2 StPO sei es nämlich zuvorderst, einen mittellosen Angeklagten vor Kosten der Verteidigung zu schützen.

Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen (AS 145 f.).

Die nach § 142 Abs. 7 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Da das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten mit Beschluss des Amtsgerichts Singen vom 15.05.2022 gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden ist, konnte die Beiordnung nur rückwirkend erfolgen. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung möglich ist, ist umstritten. Bis zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 - BGBl. I, S. 2128 ff. - ging die, herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass eine nicht auf eine zukünftige Tätigkeit des Verteidigers gerichtete, sondern lediglich auf ein beendetes Verfahren bezogene rückwirkende oder nachträgliche Verteidigerbeiordnung grundsätzlich unzulässig sei (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 20.07.2009 - 1 StR 344/08; OLG Köln, Beschluss vom 28.01.2011- 2 Ws 74/11). Die obergerichtliche Rechtsprechung war mehrheitlich der Auffassung, dass die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers schlechthin unzulässig und unwirksam sei, und zwar auch dann, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt, aber versehentlich nicht über ihn entschieden worden war (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage 2021, § 141 Rn. 19 m.w.N.). Auch nach. Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Teil die Ansicht vertreten, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt, weil sie ausschließlich dem Zweck diene, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch die notwendige ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (Hans-OLG, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws
112/20; HansOLG Bremen, Beschluss vom 23.09.2020 - 1 Ws 120/20 = NStZ 2021, 253; OLG
·Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 - 1 Ws 12/21 bei Juris). Die rückwirkende Beiordnung sei auf etwas Unmögliches gerichtet und würde die notwendige. Verteidigung eines Angeklagten in der Vergangenheit nicht mehr gewährleisten (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2020 - 1 Ws 19/20).

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wird jedoch nach der - soweit ersichtlich - herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung für den Fall befürwortet, wenn der Antrag auf Beiordnung bereits rechtzeitig vor Verfahrensabschluss gestellt wurde, die Voraussetzungen für die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat (OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. Novem
ber 2020 - Ws 120/20; LG Gera Beschl. v. 10.11.2021 — 11 Qs 309/21, BeckRS 2021, 40620 Rn. 13, beck-online; LG Magdeburg, Beschluss vom 20.02.2020 - 29 Qs 2/20; LG Halle, Beschluss vom 15.04.2021 - 3 Qs 41/20 m.w.N.; LG Hannover Beschluss vorn 6.7.2020 - 30 Qs 31/20, BeckRS 2020, .30765 Rn. 17-20, beck-online; im Ergebnis auch LG Mannheim Beschluss vom 26.3.2020 - 7 Qs 11/20, BeckRS 2020, 4792 Rn. 4, beck-online; LG Flensburg Beschl. v.
9.12.2020 — II Qs 43/20; BeckRS 2020, 35948 Rn. 8, beck-online). Ausgehend von diesen Grundsätzen war vorliegend die rückwirkende Beiordnung ausnahmsweise zulässig und rechtmäßig. Die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung lagen bereits im Zeitpunkt der Antragstellung (05.05.2022) vor. Aufgrund der im Schriftsatz vom 05.05.2022 mitgeteilten Umstände, wo- nach der Angeklagte ausweislich eines beim Landgericht Memmingen anhängigen Strafvollstreckungsverfahrens (StVK 351/18) an einer schweren Polytoxikomanie und Heroinabhängigkeit sowie an einer schweren. kombinierten Persönlichkeitsstörung leide, bestanden zumindest erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung iSv § 140 Abs. 2 StPO. Die Entscheidung über den Beiordnungsantrag hat auch eine wesentliche Verzögerung erfahren. So hat das Amtsgericht erst am 21.06.2022 (nach Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO durch Beschluss am 16.05.2022) entschieden. Eine Entscheidung über den gestellten Antrag wäre hingegen - worauf der Verteidiger zu Recht hinweist - spätestens im Zeitpunkt der Einstellung des Verfahrens am 16.05.2022 möglich und veranlasst gewesen. Im Rahmen der Einstellungsentscheidung hat das Amtsgericht jedoch von einer Entscheidung über den gestellten Beiordnungsantrag ausdrücklich „abgesehen".

Von der Pflichtverteidigerbestellung konnte hier indessen nicht ausnahmsweise abgesehen werden. Der Ausnahmefall des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist hier nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift kann von der Verteidigerbestellung in den Fällen der fehlenden Fähigkeit des Angeschuldigten zur Selbstverteidigung (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO) abgesehen werden, wenn eine alsbaldige Verfahrenseinstellung beabsichtigt ist und solange keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen Oder Akten, mithin solche ohne Außenwirkung, vorgenommen werden sollen. Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gem. § 141 Abs. 1 StPO ist § 141 Abs. 2 S. 3 StPO nicht anwendbar (BeckOK StPO/Krawczyk, 44. Ed. 1.7.2022, StPO § 141 Rn. 23LG Bremen BeckRS 2021, 20605 Rn. 43 ff.; LG Hamburg BeckRS 2021, 20600 Rn. 17; LG Hannover StraFo 2022, 241; LG Freiburg NStZ 2021, 191; LG Düsseldorf BeckRS 2021, 36883 Rn. 18; LG Wuppertal. BeckRS 2021, 32474 Rn. 7 f.).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender:

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".