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Entscheidungen

Haftfragen

Flucht, Fluchtgefahr, Entziehen

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 - 4 Ws 302/22

Eigener Leitsatz: Der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen.


4 Ws 302/22

Oberlandesgericht Stuttgart
4. STRAFSENAT

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

wegen Vergewaltigung

hier: Fortdauer der Untersuchungshaft

hat das Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - am 15. Juli 2022 beschlossen:

1. Der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts — 9. Große Strafkammer — Stuttgart vom 1. Juli 2022 wird aufgehoben.
2. Der Angeklagte ist vorbehaltlich notierter Überhaft unverzüglich freizulassen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe:

Gegen den Angeklagten wird ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung geführt. Ihm wird zur Last gelegt, er habe am 16. Juni 2019 die damals 18-jährige Neben-klägerin in einem Hotel in Stuttgart zum Oralverkehr sowie zum vaginalen Geschlechtsverkehr gezwungen. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 22. Oktober 2019 Bezug genommen.

Der Angeklagte befand sich aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart vom 3. Juli 2019 in der Zeit vom 5. Juli 2019 bis zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls am 2. September 2019 in Untersuchungshaft.
Im ersten Rechtsgang hat das Landgericht Stuttgart den Angeklagten mit Urteil vom 9. Dezember 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt.

Auf die Revision des Angeklagten hat der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts Stuttgart mit Beschluss vom 18. Mai 2021 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Stuttgart zurückverwiesen.

Mit Beschluss vom 29. Oktober 2021 hat die nunmehr zuständige 9. Große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart den Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 3. Juli 2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben.

In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches am 9. Mai 2022 bei Gericht einging.

Am 2. Juni 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Stuttgart, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 7. März 2022 nicht auffindbar.

Das Landgericht Stuttgart hat sodann am 9. Juni 2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen.

Mit Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13. Juni 2022 ausgeführt.

Nur zwei Tage später, am 15. Juni 2022, hat der Verteidiger der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt.

Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt.

Am 23. Juni 2022 nahmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem Amtsgericht Villingen vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrecht erhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 1. Juli 2022 dem Landgericht Stuttgart vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für die Anordnung bzw. die Fortdauer der Untersuchungshaft liegen nicht vor.

1. Zwar rechtfertigt das vorläufige Gutachten der aussagepsychologischen Sachverständigen derzeit noch die Annahme eines dringenden Tatverdachts, wenngleich sich das Gutachten nicht mit allen in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs angesprochenen Punkten auseinandersetzt. So wird im Hinblick auf die Facebook-Nachrichten des Angeklagten an die Nebenklägerin nach der Tat lediglich ausgeführt, dass diese nicht zwingend deren tatsächliche Befindlichkeit darstellten, sodass hierzu im Hinblick auf sie aussagepsychologisch keine Aussage getroffen werden könne. Auch wird die Strafkammer in ihre Erwägungen einbeziehen müssen, dass der Angeklagte der Nebenklägerin über Facebook sogar seine Mobilfunknummer mitgeteilt hat, was ein eher täteruntypisches Verhalten darstellen könnte. Die endgültige Klärung der Tatvorwürfe muss freilich der neuen Hauptverhandlung vorbehalten bleiben.

2. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund. Der Angeklagte war nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.

a) Zwar war der Angeklagte nicht nur in vorliegender Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar. Auch hat er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigt die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft jedoch nicht.

Denn der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOk StPO/Krauß, 43. Ed., § 112, Rn. 18). Es muss sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Dezember 2016 - 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810, Rn. 42). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründet den Haftgrund der Flucht dagegen nicht.

b) Gemessen hieran erweist sich der angefochtene Beschluss als rechtsfehlerhaft.

Gegen ein zielgerichtetes Untertauchen spricht schon, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen anbrachte. Dies ergibt sich zum einen aus den vorgelegten Lichtbildern, zum anderen aber auch aus den im Rahmen der polizeilichen Anschriftenüberprüfung gewonnenen Erkenntnissen. Dass es sich nicht um eine Scheinanschrift handelte, belegen überdies die Angaben einer von den Polizeibeamten befragten Hausbewohnerin, die die regelmäßige Anwesenheit des Angeklagten in seiner Wohnung ausdrücklich bestätigte. Weiter konnte der Angeklagte problemlos und ohne dass es besonderer Fahndungsmaßnahmen bedurft hätte zeitnah an seiner Wohnanschrift festgenommen werden.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger unmittelbar nach dem Erlass des Einstellungsbeschlusses sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift mitteilen ließ. Er hat seine Wohnanschrift gegenüber dem Landgericht also nicht länger verschwiegen oder gar zu verheimlichen versucht, sondern diese im Gegenteil sogar aktiv offenbart.

All dies spricht gegen die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe es zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Verfahren gegen ihn aufgrund seines Wohnsitzwechsels nicht durchgeführt werden kann, zumal sein Aufenthaltsort vor Erlass des Haftbefehls leicht über eine Anfrage bei seinem Verteidiger hätte abgeklärt werden können.

3. Darüber hinaus sind auch keine anderen Haftgründe ersichtlich.

Verdunkelungsgefahr liegt ersichtlich nicht vor und es sind auch keine hinreichend konkreten Tatsachen ersichtlich, auf die die Annahme von Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte. Zwar hat der Angeklagte im Fall der Verurteilung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen, wenngleich dann im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre, dass die Tat zwischenzeitlich mehr als drei Jahre zurückliegt. Zudem vermag die Straferwartung alleine Fluchtgefahr ohnehin nicht zu begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112, Rn. 24). Darüber hinaus hat sich der Angeklagte — wohl wissend, dass ihm eine erhebliche, nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe droht — dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere ist er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen, ohne dass dies durch Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden musste. Der Umstand, dass er sich an zwei Verhandlungstagen nicht unerheblich verspätete, rechtfertigt die Annahme von Fluchtgefahr nicht.

Weiter kommt hinzu, dass der Angeklagte auch dann keine Fluchtvorbereitungen traf, als der stellvertretende Vorsitzende in einem mit dem Verteidiger geführten Telefonat am 1. Ju-ni 2022 signalisierte, dass eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich aus Sicht der Straf-kammer wohl nicht in Betracht komme. Dennoch ließ der Angeklagte, unmittelbar nachdem der Einstellungsbeschluss ergangen war, von seinem Verteidiger seine aktuelle Anschrift mitteilen. Auch blieb er in der Folge dort aufhältig. Fluchtgefahr scheidet deshalb aus.

Die Entscheidung zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens und den insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Angeklagten beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA H. Stehr, Göppingen

Anmerkung:


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