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Entscheidungen

StGB/Nebengebiete

Bewährungswiderruf, Voraussetzungen, verlängerte Bewährungszeit

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Braunschweig, Beschl. v. 29.03.2022 – 1 Ws 192/21

Leitsatz des Gerichts: 1. Die Entscheidung über einen Bewährungswiderruf ist zu treffen und darf nicht zurückgestellt werden, sobald das Gericht vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen überzeugt ist.
2. Eine nach Ablauf der bisher festgesetzten Bewährungszeit angeordnete Verlängerung schließt unmittelbar an die zuvor abgelaufene Bewährungszeit an.
3. Eine Straftat, die vor der Verlängerung der Bewährungszeit in der bewährungsfreien Zeit begangen wurde, kann dann einen Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen, wenn die Tat nicht nur rückwirkend in die Bewährungszeit fällt, sondern der Verurteilte bei Begehung der Nachtat zudem trotz Ablaufs der Bewährungszeit mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste.


In pp.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Göttingen vom 12. Juli 2021 wird auf seine Kosten verworfen.

Gründe

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: der Verurteilte) wurde vom Landgericht Göttingen am 5. September 2012 (1 KLs 15/12) wegen schwerer räuberischer Erpressung und wegen Betruges in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Mit Beschluss vom 11. November 2014 (Bd. I Bl. 54 ff.) setzte das Landgericht Göttingen die Vollstreckung des nach Verbüßung von zwei Dritteln verbliebenen Restes der verhängten Strafe mit Wirkung zum 4. Dezember 2014 zur Bewährung aus. Die mit Rechtskraft des Beschlusses beginnende Bewährungszeit bestimmte die Kammer auf 3 Jahre. Sie lief am 17. November 2017 ab.

Vor der Reststrafenaussetzung holte die Kammer ein Prognosegutachten des Sachverständigen K ein. Aus dem Gutachten (Bd. I Bl. 27 ff.) ergibt sich unter anderem, dass der Verurteilte seit dem 16. Lebensjahr an einer ausgeprägten Form des pathologischen Glücksspielens leide (ICD 10: F 63.0; DSM IV 312.31). Das abhängige Spielen habe seine Lebensführung beherrscht und zu einem zunehmenden Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte geführt. Schon als junger Erwachsener habe der Verurteilte eine erste, dreimonatige stationäre Therapie seiner Spielsucht in Bad Hersfeld absolviert. Ein dauerhafter Erfolg habe sich jedoch nicht eingestellt. Bereits einige Monate nach der Behandlung sei der Beschwerdeführer rückfällig geworden. Im Jahr 2002 habe der Beschwerdeführer dann erneut in der Fachklinik Neunkirchen-Münchwies, die auf Spielsucht spezialisiert sei, eine weitere stationäre Therapie durchgeführt. Diese habe ebenfalls keinen nachhaltigen Erfolg gehabt und der Verurteilte sei bereits nach wenigen Monaten wieder „rückfällig“ geworden (GA S. 9). Eine dritte stationäre Therapie seiner Spielsucht habe der Verurteilte in der Zeit von Oktober 2011 bis Februar 2012 in der Fachklinik Wilhelmsheim durchgeführt. Nach einer viermonatigen Behandlungsphase sei es zu einem Rückfall gekommen, weil der Spieldruck wieder so hoch gewesen sei, dass er dem nichts habe entgegensetzen können. Der Beschwerdeführer habe deshalb zwei weitere Behandlungswochen erhalten und sei von der Klinik als geheilt entlassen worden, obgleich er sich in Wirklichkeit innerlich aufgegeben habe. Eine Reststrafenaussetzung sei, so damals der Sachverständige K in seinem Prognosegutachten, dennoch zu verantworten, weil sich der Verurteilte während der Strafvollstreckung nun sehr ernsthaft mit seiner Suchtproblematik auseinandergesetzt und sowohl eine stabile Abstinenzmotivation als auch einen starken Veränderungswunsch entwickelt habe. Die positive Prognose sei vor allem darauf zurückzuführen, dass sich bei dem Verurteilten außer dem abhängigen Spielen keine weiteren nennenswerten Risikofaktoren gezeigt hätten. Eine früher überdies bestehende mittelgradig ausgeprägte, kombinierte Persönlichkeitstörung mit selbstunsicheren, depressiven und narzisstischen Zügen sei weitgehend entaktualisiert.

Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 4. April 2016 (Bd. I Bl. 74 ff.) wurde die Bewährungszeit erstmals um ein Jahr verlängert, nachdem der Beschwerdeführer durch Strafbefehl des Amtsgerichts Titisee-Neustadt wegen eines am 18. November 2015 begangenen Diebstahls mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15,- € belegt worden war. Den Gründen dieser Entscheidung ist zu entnehmen, dass die Kammer wegen des vergleichsweise geringen Unwerts der Tat von einem Widerruf der Strafaussetzung abgesehen habe.

Einem Bericht der Bewährungshilfe Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2018 (Bd. I Bl. 103 f.) ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer danach hinsichtlich seiner Spielsucht erneut einen Rückfall erlitten habe. Der Verurteilte sei deshalb vom 22. September 2018 bis zum 19. Oktober 2018 im Klinikum Frankfurt Höchst wegen pathologischen Spielens (ICD-10: F63.0) und wegen Verdachts auf eine Anpassungsstörung behandelt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bericht des Klinikums (Bd. I Bl. 105 ff) verwiesen. Aus diesem ergibt sich zudem, dass der Beschwerdeführer die Kreditkarte seiner Freundin unberechtigt genutzt habe, weshalb es mit dieser zum Streit gekommen sei.

Mit weiterem Beschluss vom 10. April 2019 (Bd. I Bl. 121 f.) sah die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen wiederum davon ab, die Strafaussetzung zu widerrufen. Vielmehr verlängerte die Kammer die Bewährungszeit um ein weiteres Jahr bis zum 17. November 2019. Anlass für die Verlängerung der Bewährungszeit war eine Verurteilung des Amtsgerichts Darmstadt vom 22. Januar 2019 zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15,- € wegen eines am 12. Februar 2018 begangenen Betruges.

Der Beschwerdeführer wurde daraufhin mit Strafbefehl des Amtsgerichts Hann. Münden vom 14. Juni 2019 (Bd. I Bl. 148 ff.) wegen eines am 25. März 2019 begangenen Betruges mit einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,- € belegt. Dem lag zugrunde, dass der Verurteilte zwei Nächte in einem Hotel übernachtete und, wie von vornherein beabsichtigt, weder das Entgelt für die Übernachtungen noch jenes für das zugehörige Frühstück beglich. Auf den Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft bat der Verurteilte mit Verteidigerschriftsatz vom 12. September 2019 um eine erneute Verlängerung der Bewährungszeit. Die Tat sei begangen worden, weil er „seit vielen Jahren schwergradig spielsüchtig“ sei. Er habe zwischenzeitlich die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Darmstadt im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, was eine deutliche Zäsur für ihn dargestellt habe. Außerdem sei es ihm gelungen, eine Arbeitsstelle an einer Tankstelle zu finden. Schließlich nehme er seit Juli 2019 regelmäßig Beratungsangebote der Fachstelle für Sucht und Suchtprävention der Diakonie Göttingen wahr und habe zudem an Gruppenabenden des Freundeskreises für Suchtkrankenhilfe teilgenommen. Die Kammer informierte die Staatsanwaltschaft daraufhin über ihre Auffassung, dass sie einen Widerruf der Strafaussetzung „im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit als problematisch“ ansehe. Die Staatsanwaltschaft nahm ihren Widerrufsantrag daraufhin zurück, regte jedoch an, den Ausgang weiterer anhängiger Verfahren abzuwarten.

Die Strafvollstreckungskammer wies den Beschwerdeführer mit Verfügung vom 8. Oktober 2019 darauf hin, dass der Ausgang von Verfahren abgewartet werden soll, die bei den Staatsanwaltschaften Hildesheim, Zweibrücken, Tübingen und Hamburg anhängig seien, bevor über den Straferlass entschieden werde. Sie wies zudem darauf hin, dass die mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 11. November 2014 ausgesetzte Reststrafe auch nach Ablauf der Bewährungszeit widerrufen werden könne, wenn sich herausstelle, dass der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit straffällig geworden sei.

Durch Beschluss des Landgerichts Göttingen vom 29. Juli 2020 (Bd. II Bl. 256) wurde die Bewährungszeit um ein weiteres Jahr auf sechs Jahre (also bis zum 17. November 2020) verlängert. Dabei stützte sich die Strafvollstreckungskammer neben dem bereits erwähnten Strafbefehl des Amtsgerichts Hann. Münden vom 14. Juni 2019 auf einen weiteren Strafbefehl des Amtsgerichts Meißen vom 28. Januar 2020 (Bd. II Bl. 230 f.). Durch diesen Strafbefehl wurde der Beschwerdeführer wegen eines am 12. Mai 2019 begangenen Betruges mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 15,- € belegt. Nach den Feststellungen im Strafbefehl betankte der Verurteilte in Radeburg seinen PKW, unterließ es jedoch, wie von vornherein beabsichtigt, das für den Kraftstoff zu entrichtende Entgelt in Höhe von 76,11 € zu entrichten. Andererseits stützte sich das Landgericht bei seinem Verlängerungsbeschluss auf ein Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 20. Mai 2020 (Bd. II Bl. 241 ff.), wodurch der Beschwerdeführer wegen veruntreuender Unterschlagung in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden war. Der Verurteilte entnahm als angestellter Verkäufer bei der bereits erwähnten Tankstelle am 29. November 2019 und am 1. Dezember 2019 Bargeldbeträge in Höhe von 750,- € und 2.500,- € aus der Kasse. Obgleich der Verurteilte nach eigenen Angaben im Tatzeitraum erneut einen Rückfall in seine Spielsucht erlitten und sich auch die im September 2019 aufgenommene Arbeitstätigkeit bei der Shell Tankstelle daher nicht als stabilisierend erwiesen hatte, sah sich das Amtsgericht veranlasst, die Strafe trotz der Vielzahl der Vorstrafen zur Bewährung auszusetzen.

Im Oktober 2020 wurde der Kammer sodann bekannt, dass gegen den Verurteilten unter dem Aktenzeichen 203 Js 28488/20 ein weiteres Ermittlungsverfahren anhängig sei. Die Strafvollstreckungskammer wies mit Verfügung vom 16. Dezember 2020, dem Verurteilten zugestellt am 18. Dezember 2020, darauf hin, dass auch der Ausgang dieses Verfahrens vor einem Erlass der Strafe abgewartet werden soll.

Das Amtsgericht Göttingen verurteilte den Beschwerdeführer in diesem Verfahren am 10. März 2021 wegen Untreue (Tat Nr. 1) und wegen Betrugs (Tat Nr. 2) unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem vorgenannten Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 20. Mai 2020 (Az.: 62 Ds 35/20 – 203 Js 3992/20) und unter Einbeziehung der durch das Urteil vom 20. Mai 2020 verhängten Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten. Außerdem sprach das Amtsgericht den Beschwerdeführer im Urteil vom 10. März 2021 des Betruges in zwei weiteren – tatmehrheitlich begangenen – Fällen (Taten Nr. 3 und Nr. 4) schuldig und verurteilte ihn deshalb zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten (Bd. II Bl. 301 ff.).

Dagegen legte der Beschwerdeführer Berufung ein, die er auf den Rechtsfolgenausspruch und innerhalb desselben auf die Aussprüche über die Gesamtstrafen sowie auf die Einziehungsentscheidung beschränkte. Das Landgericht Göttingen hob das angefochtene Urteil vom 10. März 2021 durch Urteil vom 17. November 2021 im Rechtsfolgenausspruch teilweise auf und fasste es unter Verwerfung der weitergehenden Berufung dahin neu, dass der Beschwerdeführer wegen Untreue (Tat Nr. 1) unter Einbeziehung der mit Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 20. Mai 2020 verhängten Einzelstrafen und nach Auflösung der dort gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten erneut zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt wurde. Außerdem hat die Kammer den Verurteilten wegen Betruges in drei weiteren Fällen (Taten Nr. 2 bis Nr. 4) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt.

Nach den auf einem Geständnis des Beschwerdeführers beruhenden Feststellungen des Amtsgerichts zur Tat Nr. 1 (Untreue) erklärte der Verurteilte am 15. oder 16. Mai 2020 gegenüber der Geschädigten zunächst wahrheitsgemäß, er wolle für diese einen Pkw zu einem Preis von 2.900,- € erwerben. Die Geschädigte überwies zu diesem Zweck am 18. Mai 2020 zunächst einen Teilbetrag in Höhe von 1.850,- € auf das Konto des Verurteilten. Nach Eingang des Geldes und „nach dem Scheitern einer ersten Kaufverhandlung“ verwendete der Beschwerdeführer dann das ihm anvertraute Geld abredewidrig zur Finanzierung seiner Spielsucht. Eine Rückzahlung des Betrags von 1.850,- € an die Geschädigte erfolgte nicht. Vielmehr habe der Beschwerdeführer von der Geschädigten auch den Restbetrag in Höhe von weiteren 1.050,- € gefordert, um auch diesen Betrag, wie später geschehen, abredewidrig zu verwenden (Tat Nr. 2, Betrug). Der Betrag von 1.050,- € sei am 22. Mai 2020 auf dem Konto des Beschwerdeführers eingegangen. Schließlich verkaufte der Verurteilte sowohl am 25. Mai 2020 (Tat Nr. 3, Betrug) als auch am 29. Mai 2020 (Tat Nr. 4, Betrug) jeweils über das Internet Portal eBay Kleinanzeigen Mobiltelefone zu Kaufpreisen von 600,- € und 380,- € und vereinnahmte das Geld, obgleich er von vornherein nicht beabsichtigte, die Telefone tatsächlich zu liefern.

Aus den ergänzenden Ausführungen des Landgerichts zur Tat Nr. 1 ergibt sich, dass die Abhebung des Betrags von 1.850,- € genau am Tag der Hauptverhandlung über die einbezogenen Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 20. Mai 2020 erfolgte. Der Verurteilte habe das Geld, das er von der Geschädigten zuvor erhalten hatte, noch am selben Tag verspielt. Den Ausführungen der Kammer zur – aus ihrer Sicht weiterhin negativen – Kriminalprognose ist zu entnehmen, dass sich der Verurteilte von der Verhandlung vom 20. Mai 2020 nicht habe beeindrucken lassen. Wegen des Urteils vom 17. November 2021 wird auf Bd. II Bl. 430 ff. verwiesen.

Der Senat hob das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 17. November 2021 mit Beschluss vom 2. März 2022 (1 Ss 5/22) unter Aufrechterhaltung sämtlicher Feststellungen auf (Bd. II Bl. 446 ff.). Die Aufhebung erfolgte allein deshalb, weil die Kammer gegen § 55 StGB verstoßen hatte, indem sie davon ausging, der Verurteilte habe die Tat Nr.1 vor dem Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 20. Mai 2020 begangen.

Der Beschwerdeführer befand sich vom 6. September 2021 bis zum 1. November 2021 in der Median Klinik W... zur Behandlung der gesicherten Diagnosen des Pathologischen Glückspiels (ICD-10: F 63.0), des Missbrauchs anderer psychotroper Substanzen (ICD-10: F 19.1 [schädlicher Gebrauch]), der rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10: F 33.0. [gegenwärtig leichte Episode]) sowie der psychischen und Verhaltensstörung durch Tabak (ICD-10: F 17.2 [Abhängigkeitssyndrom]). Dem ärztlichen Entlassungsbericht vom 4. November 2021 ist zu entnehmen, dass es dem Beschwerdeführer nach seinen ersten drei Therapien jeweils nur wenige Monate gelungen ist, auf das Spielen zu verzichten. Außerdem sei er in einer Obdachlosenunterkunft in Kontakt mit Drogen gekommen. Er habe im Zeitraum von November 2020 bis Januar 2021 Cannabis (2-3 Joints pro Woche) und zudem im Zeitraum von Dezember 2020 bis April 2021 MDPV (Flex) konsumiert (2-10 „Pfeifen“ täglich). Die Klinik geht davon aus, dass dem Beschwerdeführer nach Abschluss der Behandlung eine zukünftige abstinente Lebensführung „grundsätzlich zuzutrauen“ sei. Die Fortsetzung des begonnenen Therapieprozesses sei jedoch im Rahmen einer ambulanten Weiterbehandlung zu empfehlen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Entlassungsbericht (Bd. II Bl. 410 ff.) verwiesen.

Aus einer Bescheinigung des Bewährungshelfers vom 7. März 2021 (Bd. II Bl. 452 f.) ergibt sich, dass sich der Beschwerdeführer nach seiner stationären Rehabilitation wieder in der Fachstelle für Sucht und Suchtprävention der Diakonie in Göttingen vorgestellt habe. Seit dem 12. November 2021 hätten insgesamt acht Beratungsgespräche stattgefunden. Die ambulante Rehabilitationsmaßnahme sei am 11. Februar 2022 begonnen worden und es sei bereits zu vier therapeutischen Einzelgesprächen gekommen.

Der Verurteilte ist ferner auf seinen gemäß §§ 8 a Abs. 2, 27 p Abs. 4 Nr. 1 GlStV bei der zuständigen Aufsichtsbehörde des Landes Hessen gestellten Antrag auf unbefristete Sperre vom 19. Juli 2021 (Bd. II Bl. 347) im Spielersperrsystem OASIS verzeichnet. Das Regierungspräsidium Darmstadt teilte mit Schreiben vom 28. Juli 2021 (Bd. II Bl. 365 f.) mit, dass sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht alle Glückspielanbieter flächendeckend an OASIS anschließen konnten.

Durch den angefochtenen Beschluss vom 12. Juli 2021 (Bd. II Bl. 332 ff.) hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren aus dem Urteil des Landgerichts Göttingen vom 5. September 2012 widerrufen und sich dabei auf das auf einem Geständnis beruhende Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 10. März 2021 gestützt. Gegen diesen Beschluss hat sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde vom 15. Juli 2021 gewandt, die am selben Tag bei Gericht eingegangen ist. Der Widerruf der Strafaussetzung, den die Kammer ausgesprochen habe, sei angesichts der Bemühungen des Verurteilten um therapeutische Aufarbeitung seiner Sucht kontraproduktiv. Für den Verurteilten sei außerdem inzwischen eine rechtliche Betreuung etabliert und es bestehe ein enger und guter Kontakt zur Bewährungshilfe. Zudem werde der Antrag des Verurteilten auf Eintragung einer Selbstsperre in OASIS nach § 8 a GlStV zukünftige Delinquenz verhindern.

Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig hat mit Zuschrift vom 5. August 2021 beantragt, die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Widerrufsbeschluss des Landgerichts Göttingen vom 12. Juni 2021 als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist statthaft (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO), form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) und auch im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel hat in der Sache aber keinen Erfolg. Die Voraussetzungen des Widerrufs der Strafrestaussetzung zur Bewährung nach §§ 57 Abs. 5 Satz 1, 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB liegen vor.

1. Der Verurteilte hat innerhalb der am 17. November 2020 abgelaufenen Bewährungszeit, nämlich im Mai 2020, vier weitere Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht begangen und dadurch gezeigt, dass sich die Erwartung künftiger Straffreiheit, die der Strafaussetzung zugrunde gelegen hatte, nicht erfüllt hat. Der Schuldspruch aus dem Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 10. März 2021 wegen Untreue und wegen Betruges in 3 tatmehrheitlichen Fällen beruht auf dem Geständnis des Beschwerdeführers und ist inzwischen rechtskräftig. Dass der Senat die Aussprüche über die Gesamtstrafen am 2. März 2022 (1 Ss 5/22) aufgehoben hat, hindert nicht, aktuell über den Widerruf der Strafaussetzung zu entscheiden. Die Entscheidung über einen Bewährungswiderruf ist vielmehr zu treffen und darf nicht zurückgestellt werden, sobald das Gericht vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen überzeugt ist (OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. September 2011, Ws 280/11, juris, Rn. 10). Das ist der Fall.

Die Verlängerung der Bewährungszeit auf 6 Jahre war trotz der Regelung des § 56f Abs. 2 S. 2 StGB, wonach die Bewährungszeit um nicht mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden kann, wirksam. Dass das Landgericht Göttingen mit Beschluss vom 29. Juli 2020 die ursprünglich auf 3 Jahre festgesetzte Bewährungszeit ein drittes Mal auf nunmehr sechs Jahre verlängert hat, verstieß nicht gegen § 56f Abs. 2 S. 2 StGB. Der Senat hält insoweit an seinem Beschluss vom 15. November 2010 (OLG Braunschweig, Beschluss vom 15. November 2010, Ws 292/10, juris, Rn. 19 m.w.N.) fest, wonach § 56f Abs. 2 S. 2 StGB eine Verlängerung der Bewährungszeit ermöglicht, bis die Bewährungszeit fünf Jahre zuzüglich der Hälfte der im ursprünglichen Bewährungsbeschluss festgesetzten Bewährungszeit beträgt.

Die Taten vom Mai 2020 fielen auch in die Bewährungszeit, weil sich die nach Verstreichen der ursprünglichen Bewährungszeit (hier mit Ablauf des 17. November 2019) durch Beschluss vom 29. Juli 2020 angeordnete Verlängerung um 1 Jahr – verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG; Beschluss vom 10. Februar 1995, 2 BvR 168/95, juris, Rn 20) – selbst dann unmittelbar an die zuvor abgelaufene Bewährungszeit anschließt, wenn der Verlängerungsbeschluss, wie hier, erst nach Ablauf der bisher festgesetzten Bewährungszeit ergeht (OLG Braunschweig, Beschluss vom 15. November 2010, Ws 292/10, juris, Rn. 22; OLG Bamberg, Beschluss vom 12. August 2021, 1 Ws 477/21, juris, Rn. 7).

Soweit der Senat im vorgenannten Beschluss vom 15. November 2010 (a.a.O., Rn. 23) ausgeführt hat, einem Verurteilten könnten keine Straftaten als Bewährungsversagen vorgeworfen werden, die im Zeitraum zwischen dem Ende der bisherigen Bewährungszeit und der Bekanntgabe der Verlängerungsentscheidung begangen werden, hält der Senat daran jedenfalls in der beschriebenen Pauschalität nicht fest. Vielmehr kann nach zutreffender Auffassung, der sich der Senat anschließt, eine in der bewährungsfreien Zeit begangene Straftat dann einen Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen, wenn die Tat nicht nur rückwirkend in die Bewährungszeit fällt, sondern der Verurteilte bei Begehung der Nachtat zudem trotz Ablaufs der Bewährungszeit mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste (OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 11; KG Berlin, Beschluss vom 18. Juli 2018, 5 Ws 78/18121 AR 113/18, juris, Rn. 25; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 11. Dezember 2013, 1 Ws 451/13, juris, Rn. 22; OLG Rostock, Beschluss vom 7. Dezember 2010, I Ws 335/10, juris, Rn. 14 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 29. Januar 2013, III-3 Ws 19/13, juris, Rn. 11 f.; jeweils m.w.N.). Diese Auslegung ist verfassungsrechtlich zulässig (BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 1995, 2 BvR 168/95, juris, Rn¨21) und berechtigt hier zum Widerruf der Strafaussetzung. Der Beschwerdeführer verdient keinen Vertrauensschutz, weil ihn die Strafvollstreckungskammer bereits mit Schreiben vom 8. Oktober 2019 darauf hingewiesen hatte, dass der Ausgang weiterer bei den Staatsanwaltschaften Hildesheim, Zweibrücken, Tübingen und Hamburg anhängiger Verfahren abgewartet werden soll, bevor über den Straferlass entschieden werde. Sie hatte ihn zudem davon in Kenntnis gesetzt, dass die mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen ausgesetzte Reststrafe auch nach Ablauf der Bewährungszeit widerrufen werden könne, wenn sich herausstelle, dass der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit straffällig geworden sei. Damit war für den Verurteilten klar, dass neben einem potentiellen Bewährungswiderruf auch eine weitere Verlängerung der Bewährungszeit im Raum stand. Die Möglichkeit einer Verlängerung der Bewährungszeit war, obgleich sie im Schreiben nicht ausdrücklich genannt war, dem Verurteilten bewusst, weil die mit Beschluss vom 11. November 2014 festgesetzte Bewährungszeit zuvor bereits mit Beschlüssen vom 4. April 2016 und vom 10. April 2019 verlängert worden war. Ihm war daher klar, dass das Gesetz auch diese Möglichkeit vorsieht.

Dass die Verlängerung später nicht wegen der im Schreiben vom 8. Oktober 2019 genannten Ermittlungsverfahren, sondern tatsächlich wegen der Strafbefehle des Amtsgerichts Hann. Münden und des Amtsgerichts Meißen erfolgte, spielt für die Frage des Vertrauensschutzes gleichfalls keine Rolle. Mögen auch die in Hildesheim, Tübingen und Hamburg geführten Verfahren noch vor Begehung der Anlasstaten eingestellt worden sein (teilweise allerdings gemäß § 154 StPO mit entsprechender Wiederaufnahmemöglichkeit), so hat doch jedenfalls das von der Staatsanwaltschaft Zweibrücken geführte Verfahren noch kurze Zeit vor Begehung der Anlasstaten dazu geführt, dass der Verurteilte sowohl wegen Betruges als auch wegen Diebstahls beim Amtsgericht Landstuhl angeklagt wurde (Anklage der Staatsanwaltschaft Zweibrücken vom 28. Februar 2020).

2. Es besteht Anlass zu der Besorgnis, der Verurteilte werde erneut Straftaten begehen und ihm kann auch mit Auflagen oder Weisungen im Sinne des § 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB gegenwärtig keine positive Kriminalprognose gestellt werden. Eine weitere Verlängerung der Bewährungszeit nach § 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB kommt ohnehin nicht in Betracht, weil die nach der Senatsrechtsprechung (OLG Braunschweig, Ws 292/10, juris, Rn. 19) zulässige Dauer bereits abgelaufen ist.

Eine solche Reaktion auf das Fehlverhalten eines Verurteilten ist ausreichend, wenn aufgrund von Tatsachen erwartet werden kann, dass er künftig – ggf. mit Maßnahmen gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 1 StGB – keine Straftaten mehr begehen wird. Dazu reicht allerdings der Wille zu straffreier Führung allein nicht aus. Vielmehr müssen Tatsachen dafür sprechen, dass der Verurteilte auch fähig ist, diesen Willen in die Tat umzusetzen (KG, Beschluss vom 12. Januar 2009, 2 Ws 620/08, juris, Rn. 12). Davon ist nicht auszugehen.

Ein maßgeblicher Aspekt, der hier gegen ein Absehen vom Widerruf spricht, liegt darin begründet, dass das erkennende Landgericht Göttingen im Urteil vom 17. November 2021 zu einer negativen Kriminalprognose gelangt ist. Für das zur Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung berufene Gericht besteht zwar keine Bindungswirkung an die Prognose des die neue Straftat aburteilenden Tatrichters, so dass es nicht daran gehindert ist, von einem Widerruf der Strafaussetzung abzusehen, obwohl das Gericht, das über die neue Straftat zu urteilen hatte, keine Bewährungsstrafe verhängt hat. Allerdings kommt der sach- und zeitnäheren Prognose des letzten Tatgerichts eine erhebliche Bedeutung zu, wenn sie die maßgeblichen prognoserelevanten Umstände berücksichtigt und zu einem schlüssigen Ergebnis gelangt (OLG München, Beschluss vom 21. März 2012, 3 Ws 239/12, juris, Rn. 16). Das ist hier der Fall, weil dem schlüssig begründeten Urteil vom 17. November 2021 eine sorgfältige Prüfung aller maßgeblichen Umstände zugrunde liegt. Die Kammer hat sich eingehend mit den maßgeblichen Umständen, insbesondere mit der zuletzt durchgeführten stationären Therapie in der Klinik W..., auseinandergesetzt. Dass der Senat das Urteil vom 17. November 2021 im Revisionsverfahren dennoch aufgehoben hat, beruhte alleine auf einem Fehler, der der Kammer bei der Bildung der Gesamtstrafen unterlaufen ist.

Gegen eine positive Kriminalprognose spricht insbesondere die Vielzahl der Vorstrafen. Der Beschwerdeführer begeht seit Ende der 90er Jahre regelmäßig Straftaten. Dass der Beschwerdeführer erneut eine Therapie zur Überwindung seiner Spielsucht, die ursächlich für die Straftaten ist, durchgeführt hat, begründet eine gewisse Hoffnung, lässt jedoch die Besorgnis neuer Straftaten nicht entfallen. Denn der Beschwerdeführer hatte vor der Therapie in der Klinik W... zumindest vier weitere stationäre Therapien absolviert, die allesamt keinen nachhaltigen Erfolg hatten. Vielmehr ist der Verurteilte jeweils schon wenige Monate nach Abschluss der Therapie und bei der dritten Therapie sogar noch während der Behandlungsphase rückfällig geworden. Vor diesem Hintergrund bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, die fünfte Therapie werde nun nachhaltigen Erfolg haben. Ob sich die Situation des Beschwerdeführers durch seinen Drogenkonsum, zu dem es im Zeitraum von November 2020 bis April 2021 kam, noch zusätzlich verschlechtert hat, kann vor diesem Hintergrund letztlich dahinstehen.

Eine positive Kriminalprognose folgt auch nicht daraus, dass eine rechtliche Betreuung eingerichtet wurde und dem Verurteilten ein Bewährungshelfer zur Seite steht. Die Bewährungshilfe konnte den Beschwerdeführer auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abhalten und die rechtliche Betreuung wird, so sinnvoll sie sein mag, die auf der Spielsucht beruhende Delinquenz nicht verhindern können.

Der Besorgnis zukünftiger Straffälligkeit steht schließlich nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer auf seinen gemäß §§ 8 a Abs. 2, 27 p Abs. 4 Nr. 1 GlStV bei der Aufsichtsbehörde des Landes Hessen gestellten Antrag vom 19. Juli 2021 im Spielersperrsystem OASIS gesperrt ist. Eine solche Sperre begründet schon deshalb nur einen vorübergehenden und damit keinen hinreichenden Schutz, weil sie den Antragsteller nur für ein Jahr bindet. Nach den einschlägigen Regelungen kann die gesperrte Person nach Ablauf der Mindestsperrfrist von 1 Jahr die Aufhebung der Sperre beantragen (§ 8 a Abs. 6, 8 b Abs. 1 GlStV). Hinzu kommt, dass das Spielersperrsystem Ausnahmen kennt (§ 8 Abs. 2 Satz 2 GlStV), auf die Bundesrepublik Deutschland begrenzt ist und das zuständige Regierungspräsidium Darmstadt am 28. Juli 2021 außerdem mitgeteilt hat, dass noch nicht alle Glückspielanbieter flächendeckend an OASIS angeschlossen werden konnten.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.


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