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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Strafvollstreckung, Haft

Gericht / Entscheidungsdatum: LG München I, Beschl. v. 16.10.2020 – 23 Qs 30/20

Eigener Leitsatz: Die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet im Strafvollstreckungsverfahren entsprechende Anwendung.


Landgericht München 1
23 Os 30/20

In dem Bewährungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger:
Rechtsanwältin Braun Johanna, Türkenstraße 7, 80333 München, Gz.: 90/20
wegen Bedrohung u. a.

hier sofortige Beschwerde gegen Widerruf der Bewährung

erlässt das Landgericht München I- 23. kleine Strafkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 16. Oktober 2020 folgenden

Beschluss

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 18.11.2019, Az. BwR 825 Ds 257 Js 114, wird dieser aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung des Amtsgerichts München an dieses zurückverwiesen.
2. Dem Verurteilten wird Rechtsanwältin pp. für die sofortige Beschwerde (mit Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand) gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 18.11.2019, Az. BwR 825 Os 257 Js 114,
als Pflichtverteldigerin beigeordnet.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die im Rechtsmittelverfahren entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten zu tragen.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts München vom 12.11.2014, Az. 1112 Ds 257 Js 114, (BI. 1/5) wegen Bedrohung in Tatelnheit mit Verstoß gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Ausweislich des Urteils war der Verurteilte bereits zu diesem Zeitpunkt in der pp in München wohnhaft.

Mit Bewährungsbeschluss vom selben Tag (BI. 6/8) wurde der Verurteilte angewiesen, während des Laufes der Bewährungszeit jeden Wohnungswechsel dem Gericht unaufgefordert mitzuteilen und sich unverzüglich um Arbeit zu Bemühen, die Bewerbungen alle 2 Monate dem Gericht nachzuweisen, sowie Antritte der Arbeitsstelle und den Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen. Dem Verurteilen wurde darüber hinaus unter anderem auferlegt, den verursachten Schaden (mindestens 1.500,00 EUR) gegenüber dem Geschädigten POM pp. nach Kräften wiedergutzumachen und zu diesem Zweck monatliche Ratenzahlungen in Höhe von mindestens 100,00 EUR nach einem Arbeitsantritt zu bezahlen, wobei hiervon die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 20.08.2014, Az. pp., nicht berührt werden sollte.

Der Bewährungsbeschluss wurde dem Verurteilten am 10.12.2014 sodann formlos übersendet.

Mit Beschluss vom 15.12.2014 wurde das Bewährungsverfahren BwR 825 Ds 257 Js/14 zum Bewährungsverfahren BwR 811 Ds 256 Js pp. übernommen. (BI 9/10).

Sodann erfolgten in diesem Bewährungsverfahren nach Aktenlage keine Maßnahmen im Rahmen der Bewährungsüberwachung bis 19.06.2017 (BI. 11 d.A.).

Mit Schreiben vom 19.06.2017 (Bi. 11 d.A.) wurde der Verurteilte sodann erstmals im hiesigen Bewährungsverfahren kontaktiert und zu einem (nicht in den Akten befindlichen) Antrag der Staatsanwaltschaft München I zur Verlängerung der Bewährungszeit um 1 Jahr wegen erneuter Straffälligkeit mit rechtskräftiger Entscheidung des Amtsgerichts München vom 02.062016 (Az.:833 Ds 254 Js pp./15) schriftlich angehört. Dieses Schreiben konnte dem Verurteilten am 22.06.2017 an der gerichtsbekannten Adresse pp. in München zugestellt
werden.

Mit Beschluss vom 19.07.2017 wurde sodann die bewilligte Bewährungszeit um 1 Jahr, bis einschließlich 19.11.2019 verlängert (BI. 13t15). Auch dieser Beschluss konnte dem Verurteilten an der Adresse pp. in München zugestellt werden.

Weitere Maßnahmen zur Bewährungsüberwachung wurden im hiesigen Bewährungsverfahren nach Aktenlage bis zum 21.01.2019 nicht getroffen (BI. 16).

Mit Schreiben vom 21.01.2019 wurde sodann der Begünstigte der Geldauflage angeschrieben und befragt, ob Zahlungseingänge erfolgt seien (81. 16).

Mit Schreiben vom 31.01.2019, eingegangen bei Gericht am 06.02.2019, teilte der Begünstigte der Geldauflage mit, dass nach der Hauptverhandlung keine weiteren Zahlungen erfolgt seien. Jedoch am 20.09.2016 über einen Rechtsanwalt die Pfändung von 9,35 EUR erwirkt werden konnte (Bl. 18).

Nach richterlicher Zuleitung stellte die Staatsanwaltschaft München 1 sodann mit Verfügung vom 27.02.2019 den Antrag die Strafaussetzung im hiesigen Bewährungsverfahren nach Anhörung des Verurteilten zu widerrufen (BI. 19).

Auf richterliche Verfügung vom 04.03.2019 wurde sodann die Gerichtshilfe beim Amtsgericht München gebeten im Hinblick auf die (anstehende) Anhörung des Verurteilten einen Bericht zu erstellen (BI. 19).

Mit Bericht vom 10.04.2019, eingegangen bei Gerichts am 16.04.2019, teilte die Gerichtshilfe mit, dass sie mit dem Verurteilten telefonisch in Kontakt treten konnte und dieser berichtete habe, dass er derzeit ein Einkommen in Höhe von 1.832,00 EUR erhalte, wovon er seine Mietzahlung in Höhe von 1.223,00 EUR und eine monatliche Rate in Höhe von 225,00 EUR für die Geldstrafe im Verfahren 254 VRs pp/15 bezahlte. Hinsichtlich der Schadenwiedergutmachung habe der Verurteilte angegeben, dass diese durch den Begünstigten weiterhin zivilrechtlich vollstreckt/gepfändet werde. Aufgrund der insoweit dargestellten Situation könne er keine weiteren Zahlungen leisten. Zudem habe der Verurteilte darauf hingewiesen, dass er dem Begünstigten bereits 500,00 EUR im Rahmen der Hauptverhandlung gezahlt habe. Zudem gab der Verurteilte an, bislang keinen Bewährungsbeschluss erhalten zu haben und dass er davon ausgehe keinen Be-währungsauflagenverstoß begangen zu haben. Der Verurteilte übergab weiter entsprechende Unterlagen (Gehaltsabrechnung März 2019, Kontoauszüge vom 14.032019, 04.02.2019, 26.02.2019, 04.02.2019, 02.02.2019) (BI. 20/30).

Mit richterlicher Verfügung vom 17.04.2019 wurde der Verurteilte sodann zum Anhörungstermin am 16.05.2019 geladen. Die Ladung konnte dem Verurteilten an der gerichtsbekannten Adresse in pp München) nicht zugestellt werden, da dieser an der angegebenen Adresse nicht zu ermitteln gewesen sei (Bi. 22, 23).

Nach Auskunft des elektronischen, behördlichen Auskunftsystems BayBIS vom 30.04.2019, war der Verurteilte weiterhin dort gemeldet (BI. 24).

Auf richterliche Verfügung vom 30.04.2019 wurde sodann eine Aufenthaltsermittlung der Verurteilten über die Polizeiinspektion München 15 vorgenommen und um polizeiliche Aushändigung der Ladung gebeten (BI. 25).

Nach polizeilicher Mitteilung vom 09.05.2019 kam der Verurteilte auf telefonische Aufforderung zur Polizeiinspektion München 15, und gab an, dass er weiterhin an der bekannten Adresse wohnhaft sei und ihm wurde die Ladung ausgehändigt (BI. 26).

Laut Protokoll (BI. 24/34) gab der Verurteilte bei der Anhörung am 16.05.2019 an, dass er ein Kontaktverbot zu dem Begünstigten der Geldauflage gehabt habe und er keine Daten gehabt habe wohin er das Geld überwelsen solle. Er zahle derzeit Raten in Höhe von 50,00 EUR. Diese zahle er an die Justizkasse, da er die Daten des Begünstigten nicht wissen dürfe. Er glaube die Justiz lege das dem Begünstigten aus. Er habe während der Hauptverhandlung 500,00 EUR gezahlt.

Darüber hinaus übergab er dem Gericht ein Schreiben des Gerichtsvollziehers vom 05.04.2019 mit Zahlungsaufforderung in Höhe von 1.677,50 EUR in der Vollstreckungssache des Freistaates Bayern (Landesamt für Finanzen, Dienststelle Regensburg) gegen den Verurteilten und Ladung zur Abgabe der Vermögensauskunft am 27.05.2019. Das Gericht gab dem Verurteilten bei der Anhörung bekannt, dass eine unabhängige Zahlung neben der zivilrechtlichen Zahlung offen sei. Zudem erklärte das Gericht, dass die Geldauflage in eine Arbeitsauflage umgewandelt werden könnte. Zudem wurde dem Beschuldigten aufgegeben bis spätestens 01.08.2019 den Grund der Vollziehung mit dem Gerichtsvollzieher zu klären und das Gericht diesbezüglich zu benachrichtigen.

Bis zum 03.06.2019 kam der Verurteilte dieser Aufforderung nicht nach, sodass mit gerichtlichen Schreiben vom 03.06.2019 der Verurteilte mit Fristsetzung bis zum 17.06.2019 erneut zur Klärung und Benachrichtigung aufgefordert wurde (B. 35). Dieses Schreiben konnte dem Verurteilten dann nicht zugestellt werden unter der bekannten Adresse, da der Verurteilte an dieser Adresse laut Postzustellungsurkunde vom 05.06.2019 nicht zu ermitteln sei (Bi. 36).
Nach Auskunft des elektronischen, behördlichen Auskunftsystems BayBIS vom 12.06.2019, war der Verurteilte weiterhin dort gemeldet (BI, 37).

Auf gerichtliche Bitte vom 12.06.2019 wurde die Polizeiinspektion München sodann gebeten das Schreiben dem Verurteilten auszuhändigen (BI. 38).

Mit Fax vom 13.06.2019 übersendete der Verurteilte sodann ohne weitere Erklärungen einen „Zahlungsplan - gütliche Einigung -u, vereinbart mit dem Gerichtsvollzieher pp. in der Sache Freistatt Bayern gegen ihn. Aus diesem ergeben sich 14 vereinbarte monatliche Raten (die erste ä 500.00 EUR, zwölf ä 100,00 EUR und die letzte ä 65,06 EUR). Zudem übersandte der Verurteilte einen Mahnbescheid vom 26.03.2014 mit der Hauptforderung „Schadensersatzforderung aufgrund vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung gemäß 14 BayB Körperverletzung eines Polizisten am 28.01.2014u in Höhe von 1.696,25 EUR. Dieser Mahnbescheid enthält den Hinweis zur Hauptforderung, dass der früherer Gläubiger (hiesiger Auflagenbegünstigter) die Forderung seit dem 07.08.2012 an den Antragsteller abgetreten habe (8140/42).

Mit staatsanwaitschaftlicher Verfügung vom 21.06.2019 hielt die Staatsanwaltschaft München 1 am Widerrufsantrag fest (BI 43).

Am 03.07.2019 erkundigte sich das Gericht telefonisch (BI. 44) beim Gerichtsvollzieher pp. Dieser teilte mit, dass der Verurteilte ihm gegenüber das hiesige Bewährungsverfahren mit der Geldauflage trotz gerichtlicher Abklärungsanordnung nicht mitgeteilt habe. Zudem erkundigte sich das Gericht am selben Tag telefonisch beim zuständigen Sachbearbeiter der Lan-desstelle für Finanzen, dass die Schadensersatzforderung betreffend den vorgelegten Mahnbescheid nur Heilbehandlungs- und Dienstausfallkosten - nicht jedoch eine Schadenwiedergutmachung des Verurteilten betreffen würde (BI. 44).

Auf gerichtliche Anfrage teilte der rechtsanwaltliche Vertreter des Auflagenbegünstigten mit Schreiben vom 15.07.2019, eingegangen am 16.07.2019, mit, dass weiterhin bislang nur ein Betrag in Höhe von 9,53 beim Verurteilten gepfändet werden konnte (BI. 45/46).

Mit gerichtlichen Schreiben vom 26.07.2019 wollte das Amtsgericht München den Verurteilten sodann mitteilen, dass die vorgelegte „Gütliche Einigung - Zahlungsplan" nur Heilbehandlungs- und Dienstausfallkosten betreffen würden, nicht jedoch seine Schadenswiedergutmachung gegenüber dem Auflagenbegünstigten, sodass die Vorlage dieser Unterlagen den Verurteilten auch nicht von seiner Pflicht zur Erfüllung der Bewährungsauflage befreie. Zudem setzte das Gericht dem Verurteilten in diesem Schreiben eine letztmalige Zahlungspflicht bis spätestens 01.09.2019. Dieses formlos versendete Schreiben kam als unzusendbar an das Gericht zurück, da der Empfänger an der angegebenen Adresse pp. in München) nicht zu ermitteln sei (BI. 47, 48).

Nach Auskunft des elektronischen, behördlichen Auskunftsystems BayBIS vom 06.08.2019, war der Verurteilte weiterhin dort gemeldet (BI. 49).

Auf richterliche Verfügung vom 06.08.2019 wurde eine Aufenthaltsermittlung des Verurteilten über die Polizeiinspektion München veranlasst, mit der Bitte dem Beschuldigten das Schreiben vom 26.07.2019 auszuhändigen.

Gemäß polizeilicher Mitteilung vom 12.08.2019 (Bi. 52) sei der Verurteilte „am 25.06.2019 von Amtswegen abgemeldet [worden] und verfügte] über keine aktuelle Meldeadresse. Der aktuelle Aufenthalt [sei] nicht bekannt bzw. zu ermitteln."

Mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 21.08.2019, hielt die Staatsanwaltschaft München 1 sodann am Widerrufsantrag fest. Es wurde jedoch angeregt bis zur gesetzten Zahlfrist vom 01.09.2019 mit einer Entscheidung abzuwarten (BI, 53).

Auf rechtsanwaltliches Schreiben vom 19.08.2019, eingegangen bei Gericht am 20.08.2019, teilte der Auflagenbegünstigte rechtsanwaltlich vertreten mit, dass bereits am 23.11.2014 eine Barzahlung in Höhe von 500,00 EUR erfolgt war (BI. nicht paginiert zwischen 56 und 56).

Mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 28.08.2019 wurde weiterhin am Widerrufsantrag festgehalten und angeregt erneut zu überprüfen, ob weitere Zahlungen auf die Auflage erfolgt seien (BI. 58).

Auf richterliche Anfrage wurde sodann mit rechtsanwaltlichen Schreiben vom 11.10.2019, eingegangen am 14.10.2019 mitgeteilt, dass keine weiteren Zahlungen auf die Geldauflage erfolgt seien (BI. 57).

Mit Beschluss vom 18.11.2019 (BI. 58/61) widerrief sodann das Amtsgericht München die ge-währte Strafaussetzung zur Bewährung und ordnete die Vollstreckung der Freiheitsstrafe von 10 Monaten an. Zur Begründung gab, das Gericht an, dass der Verurteilte die mit Bewährungsbeschluss vom 12.11.2014 erteilten Auflagen gröblich und beharrlich nicht erfüllt habe, was Anlass zur Besorgnis der Begehung neuer Straftaten gäbe, § 56f Abs 1 Satz 1 Nr. 3 StGB. Im Weiteren führte das Gericht insbesondere aus, dass der Verurteilte, auch nach dem Schreiben vom 26.07.2019, in dem die Rechtslage ausführlich erklärt worden sei und der nochmals gewährten Fristverlängerung bis 01.09.2019 keine Zahlungen auf die Geldauflage vorgenommen habe. Das Schreiben habe aufgrund des aktuell unbekannten Aufenthaltes nicht zugesendet werden können. Zudem habe der Verurteilte gegen die Verpflichtung, jeden Wohnungswechsel dem Gericht unaufgefordert mitzuteilen, verstoßen. Es sei davon auszugehen, dass der Verurteilte sich durch sein Untertauchen dem Bewährungsverfahren entziehen möchte. Der Verurteilte sei durch das Gericht vor seinem Untertauchen mehrfach darauf hingewiesen worden, dass ihm der Widerruf der Bewährung drohe, wenn er sich nicht um die Auflagenerfüllung kümmere. Durch seine Nichterreichbarkeit habe der Verurteilte zweifellos gezeigt, dass er keinerlei Interesse habe, seien Auflagen zu erfüllen. Im Übrigen wird der Beschluss des Amtsgerichts München vom 12.11.2014 zur Vermeidung von Wiederholungen in Bezug genommen.

Mit richterlicher Verfügung vom 18.11.2019 wurde sodann die öffentliche Zustellung dieses Beschlusses verfügt (BL 61) und ein entsprechender Aushang vom 19.11.2019 bis 04.12.2019 öffentlich an der Gerichtstafel des Amtsgerichts München ausgehangen.

Mit Verfügung vom 23.11.2019 verzichtete die Staatsanwaltschaft München i auf Rechtsmittel (BL 61).

Am 18.12.2019 wurde das Bewährungsheft sodann an die Staatsanwaltschaft zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Verfahren 257 VRs pp. 114 zugeleitet (BI 62, 63).

Mit Schreiben vom 09.092019 (BI. 64/72) eingegangen am 10.09.2019 beim Amtsgericht München, beantragte der Verurteilte sodann, vertreten durch Rechtsanwältin Johanna Braun, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand und legte gegen den Widerrufsbeschluss sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung wurde insoweit im wesentlichen ausgeführt, dass der Beschuldigte aufgrund eines Vollstreckungshaftbefehls am 31.08.2019 festgenommen worden sei und seither die Freiheitsstrafe verbüße, obwohl er keine Kenntnis von einem Widerrufsbeschluss erhalten habe. Er habe durchgehend an der bekannten Wohnadresse zusammen mit einem Untermieter und einem ordnungsgemäß beschrifteten Briefkasten gewohnt. Aufgrund der aufgrund der Core-na-Pandemie bestehenden Quarantäne-Vorschriften in der Justizvollzugsanstalt habe sich der anwaltliche Kontakt zum Verurteilten sehr schwer gestaltet. Der zusätzlich gestellte Beiordnungs-antrag wurde mit der schwierigen Sach- und Rechtslage und der Inhaftierung des Beschuldigten begründet. Zudem wurde anwaltliche Akteneinsicht beantragt.

Nach Weiterleitung dieses Schreibens an die Staatsanwaltschaft München I, wo es am 15.09.2020 einging, beantragte die Staatsanwaltschaft den verfristeten Wiedereinsetzungsantrag und die verfristete sofortige Beschwerde jeweils als unzulässig zu verwerfen (BI. 65) und legte die Sache als Eilsache dem Landgericht München l zur Entscheidung vor, wo sie am 25.09.2020 einging (BI 65).

Auf richterliche Verfügung vom 02.10.2020 (BI. 66) wurde sodann die anwaltliche Akteneinsicht gewährt und eine Stellungnahme und Begründungsfrist von 1 Woche angeordnet.

Auf erteilte Akteneinsicht wurde mit Schreiben vom 13.10.2020, eingegangen am 14.10.2019, die sofortige Beschwerde ergänzend begründet. Insbesondere wurde vorgetragen, dass der Beschuldigte nicht untergetaucht gewesen sei, sondern durchgängig an seiner letzten Meldeadresse in der pp. gemeldet und wohnhaft gewesen sei. Ausweislich dem vorgelegten polizeilichen Bericht zum Vollzug des Vollstreckungshaftbefehis sei der Beschuldigte am 31.08.2020 auch an dieser Adresse verhaftet worden. Hierbei ergebe sich aus dem polizeilichen Bericht, dass er dort nicht gemeldet gewesen sei, aber namentlich an der Wohnung verzeichnet gewesen sei. Es sei nicht nachvollziehbar, wieso das letzte Schreiben des Gerichts nicht zugesendet werden konnte und warum die Abmeldung von Amtswegen erfolgt sei. Im Übrigen wird auf dieses ergänzende Begründungsschreiben zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

II.

1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten Ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO.

Die gemäß §§ 453 Abs. 1, Abs. 2 S. 3, 311 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist nicht verspätet eingelegt, da die nach § 311 Abs. 2 StPO hierfür geltende einwöchige Frist nicht In Lauf gesetzt wurde.

Gemäß § 311 Abs. 2 2. Hs StPO beginnt die Frist erst mit der Bekanntmachung der Entscheidung. Die in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangene Entscheidung war diesem gemäß § 36 Abs. 2 S. 1 StPO durch Zustellung bekanntzumachen. Daran fehlt es hier.

Wenn ein Verurteilter die öffentliche Zustellung dadurch veranlasst, dass er sich unauffindbar macht, handelt er schuldhaft, (vgl. BGHSt 26, 127) so dass er in diesem Fall ggf. - nach wirksamer öffentlicher Zustellung - in der Regel keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten kann (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 m. w. N.).

Das gilt vor allem dann, wenn ihm auferlegt worden war, jeden Wohnungswechsel anzuzeigen (vgl. KG Berlin. Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564108 — m. w. N).

Diese Rechtsprechung betrifft allerdings nur die Frage, ob der Verurteilte die öffentliche Zustellung verschuldet hat und sagt nach nichts darüber aus, ob die öffentliche Zustellung wirksam war, da die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 StPO nicht an das Verschulden anknüpfen, sondern objektive Anforderungen an die Gerichte stellen, bevor sie diese Zustellungsart anordnen dürfen (vgl. vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. w. N).

Die öffentliche Zustellung bewirkt nämlich - anders als jede andere Zustellungsart - nur die Fiktion einer Bekanntgabe, ohne dass für den Betroffenen die Möglichkeit besteht, von der Entscheidung tatsächlich Kenntnis zu nehmen und ist daher im Hinblick auf Art. Art. 19 Abs. 4 GG, 103 Abs. 1 GG eng auszulegen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. w. N., u.a. BVerfG, NStZ-RR 2005, 206 f.).

Die öffentliche Zustellung ist als ultima ratio nur dann zulässig, wenn alle Versuche gescheitert sind, den unbekannten Aufenthaltsort des Empfängers zu ermitteln, wobei hinsichtlich des Ausmaßes der Nachforschungen, die das Gericht vorzunehmen hat, ein strenger Maßstab anzulegen ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13, November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. Verweis auf: BVerfG, NStZ-RR 2005, 206 f.), weil andernfalls sowohl das Prozessgrundrecht des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG als auch die vom Grundgesetz gewährleistete Effektivität des Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigt wären (vgl. vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. w. N.).

Jeder sich bietende Anhaltspunkt für die Ermittlung des Aufenthalts muss genutzt werden, um das Schriftstück gemäß § 37 Abs. 1 StPO I. V. m. §§ 166 ff. ZPO in einer Weise an den Betroffenen zuzustellen, die ihm die Gelegenheit zu seiner Kenntnisnahme verschafft (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. w. N).

Diese Grundsätze gelten für jede öffentliche Zustellung, soweit sie nicht unter die Sondervor-schriften der Absätze 2 und 3 des § 40 Abs. 3 StPO fallen, durch die der Gesetzgeber an die bereits einmal veranlasste Ladung zur Hauptverhandlung eine Erleichterung geknüpft (§ 40 Abs. 2 StPO) bzw. dem Berufungsführer verfahrensspezifische Mitwirkungspflichten auferlegt hat (§ 40 Abs. 3 StPO), die indes nach dem Wortlaut der Vorschrift für einen unter Bewährung stehenden Verurteilten nicht gelten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 584/08 — m. w. N.).

Besteht neben konkreten, individuellen Ermittlungsanhaltspunkten, denen ausnahmslos nachzugehen ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. w. N), die allgemeine Vermutung, dass sonstige Anfragen Erfolg versprechen könnten, so sind diese auch durchzuführen (vgl. vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 — m. w. N).

Vorliegend hat das Amtsgericht München nicht alle im konkreten Verfahren vorliegenden Ermittlungsanhaltspunkte zum Aufenthalt des Verurteilten wahrgenommen. Insbesondere ergab sich aus der polizeilichen Mitteilung vom 09.05.2019 (BI. 26), dass der Polizei eine Telefonnummer des Verurteilten bekannt war, unter der er erreicht werden konnte und der nähere Aufenthalt mit ihm abgeklärt werden konnte. Hiervon wurde vor der öffentlichen Zustellung kein Gebrauch gemacht, obwohl dies eben bereits zuvor bei Zusendungs-/Zustellungsproblemen zum Erfolg geführt hatte. Zudem hat das Amtsgericht München die Umstände der Abmeldung des Verurteilten von Amtswegen niemals näher versucht aufzuklären. Auch hierfür bestand ein konkreter Anlass, da sich auch im Bewährungsverfahren Zusendungs-/Zustellprobleme an der gerichtsbekannten Adresse offenbart hatten, obwohl der Verurteilte weiterhin an dieser Adresse wohnhaft war.

Unter diesen Umständen konnte die öffentliche Zustellung nicht angeordnet werden.

Damit war diese rechtswidrig, sodass die Frist für die sofortige Beschwerde nicht zu laufen begann.

2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

Maßgeblich hat das Gericht seinen Widerrufsbeschluss auch darauf gestützt, dass der Verurteilte trotz Darlegung der Rechtsauffassung des Gerichts mit Schreiben vom 26.07.2019 bis zur weiteren Fristsetzung bis zum 01.09.2019 weiterhin keine Zahlungen vorgenommen hat.

Da dieses Schreiben dem Verurteilten jedoch nie erreicht hat, wurde der Verurteilte Insoweit niemals vom Amtsgericht München gemäß § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO hierzu mündlich angehört.

Nach dem Regelungsgehalt dieser Vorschrift ist die mündliche Anhörung entgegen dem Wortlaut der Bestimmung zwingend, wenn sie weitere Aufklärung verspricht und schwerwiegende Gründe nicht entgegenstehen. Ein Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift durch das erstinstanzliche Gericht zwingt zur Aufhebung der Widerrufsentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 13. November 2008 — 2 Ws 564/08 m. w. N.: OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 199; Schleswig- Holsteinisches OLG SchlHA 2003, 194; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2003, 272; Senat, Beschluß vom 30. Juli 2004, 5 Ws 388/04). So liegen die Dinge hier. Denn im Falle einer mündlichen Anhörung hätte der Verurteilte die Möglichkeit etwas vorzutragen, dass die weitere Nichtzahlung in anderem Licht erscheinen hätte lassen können, zumal das Amtsgericht München offensichtlich zunächst selbst davon ausging. ihn vor einem Widerruf über die für einen juristischen Laien ggf. auch komplizierte Rechtslage genauer aufzuklären. Darüber hinaus ist insoweit die genaue Leistungsfähigkeit des Verurteilten In diesem Zeitraum insoweit von Bedeutung gewesen. Ohne Kenntnis dieser Umstände kann nicht beurteilt werden, ob er auch zu diesem maßgeblichen Zeitpunkt zahlungsfähig war und schuldhaft gegen die Geldauflage verstoßen hat.

V.
Dem Verurteilten pp. wird Rechtsanwältin pp. für die sofortige Beschwerde (mit Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand) gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 18.11.2019, Az. BwR 825 Ds 267 Js 114, als Pflichtverteidigerin beigeordnet.

Der rechtliche Anknüpfungspunkt ist § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Nach dieser Vorschrift ist dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte sich aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Hierunter ist insbesondere auch die Strafhaft zu verstehen (Schnitt In Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., StPO § 140 Rn. 16). Zwar regelt diese Vorschrift die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Erkenntnisverfahren, sie findet jedoch im Strafvollstreckungs- bzw. im Bewährungsverfahren entsprechende Anwendung, soweit dies im Lichte der Besonderheiten des Bewährungs- und Vollstreckungsverfahrens geboten ist. Die Rechtsmittelmöglichkeiten des Verurteilten sind hier aufgrund der öffentlichen Zustellung des Widerrufsbeschlusses - wie bereits dargestellt - stark eingeschränkt und mit der Inhaftierung weiter in tatsächlicher Hinsicht - auch weiter durch die besonderen Quarantäneregelungen während der andauernden Covid-19-Pandemie beschnitten, sodass die Beiordnung hier im konkreten Einzelfall auch im Licht der Besonderheiten des konkreten Bewährungsverfahrens geboten ist.

VI.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.


Einsender: Rain J. Braun, München

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