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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 1 Vollz (Ws) 543/13 OLG Hamm

Leitsatz:
1. § 18 MRVG gibt der Vollzugsbehörde lediglich ein Ermessen hinsichtlich der Auswahl geeigneter Lockerungen.
2. Auch ein geringes Entweichensrisiko im Falle der Gewährung von Lockerungen kann zur Verweigerung der Lockerungsgewährung führen, wenn im Falle der Realisierung dieses Risikos höchste Rechtsgüter gefährdet sind. Um diese Gefährdung bewerten und in eine Abwägung mit dem Freiheits- und resozialisierungsinteresse des betroffenen einstellen zu können, ist es erforderlich, den Grad der Gefahr eines Rückfalls im Entweichensfalle nachvollziehbar zu bewerten.

Senat: 1

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Verweigerung, Lockerungsgewährung, Entweichungsrisiko

Normen: MRVG 18

Beschluss:

Strafvollzugssache
In pp.
hat der 1. Strafsenat des OLG Hamm am 13.02.2014 beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Paderborn zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird bis zum 28.02.2014 zurückgestellt. Bis dahin hat der Betroffene die in § 115 Abs. 2 ZPO geforderte Erklärung nebst Belegen dem Senat vorzulegen.


Gründe

I.

Der Betroffene ist - abgesehen von zwischenzeitlichen Zeiten der Strafhaft - seit 1990 wegen Mordes, sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern sowie wegen Totschlags und versuchten Totschlags im Maßregelvollzug nach § 63 StGB untergebracht. Seinen Antrag auf Bewilligung begleiteter Lockerungen 1:1 hat die Vollzugsbehörde mit Bescheid vom 11.07.2013 zurückgewiesen. Zwar sei das Vollzugsverhalten des Betroffenen vorbildlich und sein Entweichensrisiko gering. Jedoch bestünde die Gefahr, dass er im Entweichensfalle "sehr schnell" in eine soziale Außenseiterposition mit sozialer Isolierung gerate, womit auch verbunden sei, dass sich seine Wünsche auf partnerschaftliche Sexualkontakte kaum erfüllen würden. Er würde dann "sehr schnell" in Kränkungs- und Konfliktsituationen geraten, bei denen ein hohes deliktsanaloges Rückfallrisiko bestünde.

Den dagegen gerichteten Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer zurückgewiesen. Sie meint, gemessen an § 18 MRVGNW sei die Ablehnung der Maßnahme nicht ermessensfehlerhaft. Wegen der Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss verwiesen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er der Sache nach die Verletzung materiellen Rechts rügt und dazu eigene Ausführungen macht. Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug ist der Auffassung, dass die Rechtsbeschwerde als unbegründet zurückzuweisen sei.

II.

Die Rechtsbeschwerde war schon zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 116 Abs. 1 StVollzG) zuzulassen. Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 31.07.2012 (III - 1 Vollz(Ws) 278/12) darauf hingewiesen, dass in den Fällen, in denen einer Ausführung Sicherheitsbedenken entgegenstehen, unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu prüfen ist, ob diesen durch entsprechende Auflagen nach § 18 Abs. 3 MRVGNW (z.B. durch eine Fesselung) Rechnung getragen werden kann. Diese Prüfung ist unter Zugrundelegung der Feststellungen im angefochtenen Beschluss hier nicht erfolgt und vom Landgericht nicht beanstandet worden. Eine Verfestigung einer solchen geringen Prüfungsdichte würde zu einer ständigen Abweichung von der Senatsrechtsprechung führen, der es vorzubeugen gilt.

Des Weiteren liegt auch der ungeschriebene Zulassungsgrund nicht hinreichender tatsächlicher Feststellungen vor (vgl. dazu Arloth, StVollzG, 3. Aufl., § 116 Rdn. 4). Die oben erwähnten zeitlichen Perspektiven hinsichtlich des Rückfalls, die mit "sehr schnell" beschrieben werden, sind - angesichts des doch mehrstufigen, von der Maßregeleinrichtung für einen Rückfall erforderlich erachteten Geschehensablaufes - so unspezifisch, dass der Senat letztlich nicht hinreichend überprüfen kann, ob die Strafvollstreckungskammer noch von zutreffenden Voraussetzungen für die Gewährung von Lockerungen ausgegangen ist.

Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig.

III.

Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss war aufzuheben und die Sache an die Strafvollstreckungskammer zurückzuweisen (§ 119 Abs. 4 StVollzG), da er Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen aufweist.

Nach § 18 MRVGNW richtet sich (u.a.) der Umfang des Freiheitsentzuges nach dem Erfolg der Therapie und ist ggf. entsprechend anzupassen, wobei Gefährdungen, die von dem Untergebrachten ausgehen können, zu berücksichtigen sind. Vollzugslockerungen dienen grundsätzlich der Erreichung des Behandlungszwecks. Lockerungen können mit Auflagen und Weisungen verbunden werden (§ 18 Abs. 3 MRVGNW).

Auf der Grundlage der Feststellungen im angefochtenen Beschluss ist nicht zu erkennen, dass diese Voraussetzungen hinreichend geprüft worden sind. Trotz der kaum vorhandenen Behandlungsmöglichkeit hinsichtlich der Persönlichkeitsstörung des Betroffenen ist dieser "im Stationsalltag deutlich belastbarer, kritik- und konfliktfähiger" geworden, hat also Behandlungsfortschritte erzielt, die Anlass geben, die Frage von Lockerungen neu zu bewerten. Dabei steht - wenn die Voraussetzungen für eine Verringerung des Maßes des Freiheitsentzuges vorliegen - der Vollzugsbehörde hinsichtlich des "Ob" seiner Abschwächung kein Ermessen zu. Das ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut ("sind ... anzupassen") sowie aus dem grundsätzlich gegebenen Freiheitsanspruch des Betroffenen aus Art. 2 GG i.V.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Nur auf der Rechtsfolgenseite besteht - angesichts der Vielzahl denkbarerer Lockerungen und angesichts der Vielzahl therapeutischer und gefahrenabwehrrechtlicher Gesichtspunkte - ein Ermessen der Vollzugsbehörde. Insoweit sind Vollzugsbehörde und Strafvollstreckungskammer womöglich schon von falschen Voraussetzungen ausgegangen.

Weiter ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 20.06.2012 - 2 BvR 865/11 - [...]) zu beachten, wonach Folgendes gilt:


"Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es geboten, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. BVerfGE 45, 187 [BVerfG 21.06.1977 - 1 BvL 14/76] <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, NJW 1998, S. 1133 <1133>; Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, [...]). Hierfür kommt der Möglichkeit, dem Gefangenen Lockerungen zu gewähren, besondere Bedeutung zu. Auch einem zu lebenslanger Haft Verurteilten kann daher nicht jegliche Lockerungsperspektive mit der Begründung versagt werden, eine konkrete Entlassungsperspektive stehe noch aus (vgl. BVerfGK 9, 231 <237>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, [...]). Der Erhaltung der Lebenstüchtigkeit dienen nicht nur Urlaub und Ausgänge, sondern - gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen hierfür noch nicht erfüllen - auch Ausführungen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S. 488 <490>, und vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, [...]). Bei langjährig Inhaftierten kann daher, auch wenn eine konkrete Entlassungsperspektive sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht, zumindest die Gewährung von Lockerungen in Gestalt von Ausführungen geboten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2008 - 2 BvR 719/08 -, FS 2011, S. 252) und der damit verbundene personelle Aufwand hinzunehmen sein (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, [...]).

Für den Vollzug von Maßregeln, der nicht anders als der Strafvollzug im engeren Sinne auf das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel der sozialen Wiedereingliederung ausgerichtet sein muss (vgl. BVerfGE 98, 169 <200 f.>; 109, 133 <151>; 128, 326 <377>), kann insoweit nichts anderes gelten. Dementsprechend sieht § 18 Abs. 1 Satz 3 MRVG NRW vor, dass Vollzugslockerungen grundsätzlich der Erreichung des Behandlungszwecks dienen; zu diesem gehört nach § 1 Abs. 1 Satz 1 MRVG NRW die Eingliederung des Untergebrachten in die Gemeinschaft."

Nach den Feststellungen im angefochtenen Beschluss geht von dem Betroffenen eine Gefahr für höchste Rechtsgüter Dritter aus (insbesondere eine Gefahr für Leib und Leben Dritter). Andererseits wird das Entweichensrisiko hinsichtlich des Betroffenen als gering eingestuft. Trotz eines als gering eingestuften Entweichensrisikos kann es freilich angezeigt sein, Lockerungen nicht zu gewähren, wenn im Falle der Realisierung des Entweichensrisikos höchste Rechtsgüter gefährdet sind. Um diese Gefährdung bewerten und in eine Abwägung mit dem Freiheits- und Resozialisierungsinteresse des Betroffenen einstellen zu können, ist es aber auch erforderlich, den Grad der Gefahr eines Rückfalls im Entweichensfalle nachvollziehbar zu bewerten (vergleichbar der Gefahrenbewertung im Rahmen einer Aussetzungsentscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB, vgl. dazu OLG München, Beschl. v. 23.01.2014 - 1 Ws 1062/13 u.a. = BeckRS 2014, 02230). Insoweit reicht vorliegend die Bewertung mit "sehr schnell" nicht aus. Ausweislich der Feststellungen im angefochtenen Beschluss wohnt dem Betroffenen offenbar nicht ein solches Aggressionspotential inne, dass er bei der geringsten Lockerung schon sofort danach trachten würde, Dritte an Leib und Leben zu schädigen. Dagegen spricht sein als sehr positiv beschriebenes Verhalten im Vollzug selbst, aber auch die oben dargestellte mehraktige Rückfallhypothese der Vollzugseinrichtung. Die Bewertung mit "sehr schnell" gibt letztlich keinen Aufschluss darüber, ob damit ein nur wenige Stunden oder Tage umfassender Prozess bis zu einem Rückfall umschrieben wird oder ein solcher, der Wochen oder gar Monate erfordert. Letzterenfalls wäre zwar eine Nichtgewährung einer Ausführung immer noch grundsätzlich vertretbar. Die Vollzugsbehörde müsste sich dann aber damit auseinandersetzen, wie wahrscheinlich ein Verbleib des Betroffenen im Falle des Entweichens über einen solchen längeren Zeitraum ist. Für die Realisierung einer solchen länger andauernden Fluchtphase spielen Umstände, wie seine Intelligenz, Außenkontakte in Form möglicher Fluchthelfer, finanzielle Mittel, Lebenserfahrung, die Fähigkeit, sich nach mehr als zwei Jahrzehnten des Freiheitsentzuges außerhalb der Anstalt zurecht zu finden, etwaiges früheres Fluchtverhalten, die frühere Rückfallgeschwindigkeit nach einer Freiheitsentziehung etc. eine Rolle. Alle diese Umstände sind bisher nicht bewertet worden.

Schließlich wäre, wenn die Prüfung anhand der dargestellten Maßstäbe ergibt, dass eine Ausführung ohne besondere Auflagen ein unvertretbares Risiko darstellt, zu prüfen gewesen, ob dann nicht wenigstens eine Ausführung mit Auflagen (zu denken wäre insbesondere an eine Fesselung) in Betracht kommt. Solche Auflagen sind nach § 18 Abs. 3 MRVGNW möglich. Bevor eine Ausführung an Sicherheitsbedenken völlig scheitert, gebietet es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - insbesondere auch vor dem Hintergrund des hier schon lange andauernden Freiheitsentzuges - , zu prüfen, ob statt einer gänzlichen Versagung nicht wenigstens eine Ausführung mit entsprechenden Auflagen in Betracht kommt (vgl. BVerfG a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.). Ob der Betroffene, der hier eine 1:1-Ausführung beantragt hat, letztlich von einer nur mit Auflagen versehenen Lockerung Gebrauch macht, bleibt dann ihm überlassen.

IV.

Die Prozesskostenhilfe konnte bisher nicht bewilligt werden, da die Bedürftigkeit des Betroffenen i.S.d. § 114 ZPO bisher nicht dargelegt und auch sonst nicht zweifelsfrei erkennbar ist. Es ist zwar angesichts seiner Unterbringung unwahrscheinlich, dass er nicht bedürftig ist, aber letztlich nicht ausgeschlossen (z.B. Vorhandensein von einsetzbarem Vermögen aufgrund Schenkung oder Erbschaft).

Um das Verfahren zu beschleunigen hat der Senat in der Sache bereits entschieden und die Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe zurückgestellt. Eine später erfolgende rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist möglich (BGH NJW 1982, 446 [BGH 30.09.1981 - IVb ZR 694/80]).



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